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#Welche Digitalisierung wollen wir für unsere Schulen? – rupture de caténaire

Welche Digitalisierung wollen wir für unsere Schulen? – rupture de caténaire

Die Titelfrage wurde schon oft gestellt und gegenwärtig sind besondere Zeiten. Hier und heute schreibe ich als irritierter Bürger, der offen zugesteht keine Ahnung von Schulpädagogik und den Anforderungen der Digitalisierung im Schulbereich zu haben. Anlass meiner Recherche und Grund meiner Irritation war folgende Pressemeldung des Kreises Mainz-Bingen. In ihr verkündet der Kreis, mit Kauf von iPads die Voraussetzung dafür schaffen zu wollen, dass

Kinder auch zu Hause gut unterrichtet werden können

Für gute 8 Millionen Euro (wovon der Kreis 1,03 Millionen Euro trägt). Nur war die Anschaffung bereits länger geplant. Es geht mir in diesem Artikel um Digitalisierung in den Schulen allgemein, nicht um die gegenwärtige Situation. Und bei der Gelegenheit erlaube ich mir vorab zu betonen: Vorausschauende Planung darf sich auch auszahlen, wo man es nicht erwartet hat. So auch bei der Bereitstellung von Endgeräten für Schülerinnen und Schüler im Zeiten des Homeschoolings. Sie spricht im Zweifel für die Planer. Wenn jetzt Kinder und Eltern zu Hause nicht um netzfähige Endgeräte rangeln: Prima. Auch Anlaufschwierigkeiten sind bei Projekten dieser Größenordnung normal und werden in diesem Artikel nicht weiter thematisiert.

Zusammengefasst

Ein Landkreis möchte also, im Rahmen des Digitalpakts und gefördert vom Bund, alle seine Schulen und deren Schülerinnen und Schüler ab der 5. Klasse mit iPads ausstatten. Da wird nicht gekleckert:

16 000 Stück insgesamt, erworben vom Kreis und verliehen an die Schüler. Rund sechs Millionen Euro nimmt der Kreis dafür alle drei Jahre – auf diesen Zeitraum ist die Leihe der Geräte gerechnet – in die Hand. Ebenso viel Geld will der Bund aus dem Digitalpakt Schule bereitstellen, um in Mainz-Bingen die digitale Infrastruktur herzustellen. Der Kreis gibt hier 600 000 Euro dazu (Die Allgemeine Zeitung in einem Artikel vom 16. Januar 2020).

Und damit die Kreiskasse nicht zu sehr belastet wird, zahlen die Eltern (mit der Ausnahme sozialer Härtefälle) 7 € pro Monat für jedes entliehene Gerät.

Viel Geld für Endgeräte und Infrastruktur, sogar an Glasfaseranbindungen für die noch nicht angebundenen Schulen ist gedacht worden. Eine prima Sache also, teuer zwar, aber gut investiertes Geld? Und warum eigentlich Tablets, iPads gar? Ich habe darum der Pressestelle des Kreises verschiedene Fragen gesendet. Unter anderem diese hier:

die Homepage/Pressemitteilung des Kreises spricht davon die “Medienkonzepte gemeinsam mit den Schulen” umzusetzen. Inwieweit ist die Verwendung von Tablets darin vorgesehen bzw. lassen sich Tablets darin integrieren? Sind die Medienkonzepte bzgl. des Tableteinsatzes identisch? Gibt es standardisierte Softwarepakete, die schulübergreifend eingesetzt werden können über die üblicherweise installierte Software hinaus? Unterstützt der Kreis die Schulen auch bei der Anschaffung oder der Auswahl von Software?

und – unter anderem – folgende Antwort erhalten:

Die Medienkonzepte der Schulen wurden individuell durch die Pädagogischen Fachkräfte vor Ort erstellt. Diese fließen in den Medienentwicklungsplan des Landkreises Mainz-Bingen ein, wobei die Medienkonzepte  die pädagogischen Anforderungen abbilden aus denen sodann die Verwaltung die technischen Anforderungen an die Hardware definiert und festschreibt.

Die Medienkonzepte sind entsprechend der Schulformen und pädagogischen Anforderungen im Unterricht unterschiedlich. Alle Medienkonzepte sehen die Verwendung von Tablets im Unterricht vor, was sich aufgrund langjähriger Erfahrungen mit unseren Pilotprojekten im Landkreis Mainz-Bingen sehr bewährt hat.

In diesem Zusammenhang verweisen wir auf eine wissenschaftliche Begleitung der Universität Mainz. Wir setzen sowohl auf schulübergreifende standardisierte Software (Apps) als auch auf individuelle Apps, welche die Schulen entsprechend zur Unterrichtsgestaltung benötigen. Die Schul-IT der Kreisverwaltung Mainz-Bingen unterstützt die Schulen vollumfänglich in der Umsetzung, hierzu zählt ebenfalls die Anschaffung, sowie Beratung bei der Auswahl der Software.

Wissenschaftliche Begleitung

Wissenschaftliche Begleitung also. Hierzu habe ich eine Autorin, Prof. Bastian von der Universität Mainz, gebeten mir mehr Details zu geben, da wissenschaftliche Studien auf die sich durch Pressestellen berufen wird, leider notorisch schwer zu recherchieren sind. Wie auch immer, sie war so freundlich mich auf ihre Arbeit unter dem Titel “Tablets zur Neubestimmung des Lernens? — Befragung und Unterrichtsbeobachtung zur Bestimmung der Integration von Tablets in den Unterricht” hinzuweisen (Aus dem Buch “Tablets im Unterricht” – Link führt zu Springer).

Ich fand die Lektüre äußerst interessant, zeigte sie mir doch, dass es hierzu Forschung gibt, die bereits hochspezifisch viele Aspekte rund um Tablets im Unterricht erörtert. Diente Wissenschaft als Feigenblatt und bot wenig Inhalte, wie so häufig? Der Inhalt jedenfalls ist in meinen Augen solide Arbeit – allerdings ist Gegenstand der Arbeit vor allem die Erwartungen auf Schüler- und Lehrerseite zu erfassen mit Selbsteinschätzungen und Fragen wie

  • Was glaubst Du, wie wäre der Unterricht, wenn Du mit dem Tablet arbeiten würdest?
  • Wenn Sie und Ihre Klasse Tablets zur Verfügung gestellt bekämen, wie würden Sie diese im Unterricht am Liebsten einsetzen?

Es geht hier also zum großen Teil – nicht ausschließlich – um die Ermittlung der Erwartungshaltung. Daneben wurden auch die subjektiven Befunde von Testgruppen erfragt. Besonders interessant fand ich folgenden Befund:

… Die Tabletunerfahrenen haben eine deutlich höhere Erwartung an die Nutzung digitaler Materialien. Es stellt sich daher die Frage, ob den Lehrenden bei unterrichtspraktischen Vorbereitungen ein Zugang zu solchen Materialien fehlt – sie benennen beispielsweise auch das Fehlen passender Apps als einen Nachteil. Gründe dafür könnten der von den Lehrenden als zu hoch empfundene Zeitaufwand zur Unterrichtsvorbereitung und Einarbeitung sein, sowie auch die geringe Vorbereitung des Tableteinsatzes im Vorfeld und die mehrheitliche Unkenntnis mediendidaktischer und -pädagogischer Konzepte. Es stellt sich die Frage, ob Lehrpersonen dadurch Potenziale für einen innovativen Einsatz seltener wahrnehmen – so wird das Tablet eher zu Recherchezwecken oder den Einsatz konkreter Apps genutzt, als etwa zur Kommunikation oder zur Dokumentation (z. B. Anfertigung von Notizen).

Digitalisierung der Schulen – Form vs. Inhalt

Die Medienkonzepte unterscheiden sich zwischen den Schulformen und auch zwischen Schulen gleicher Schulform, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Die Webpräsenz der Schulen im Landkreis ist somit – wie zu erwarten – bzgl. Digitalisierung stark unterschiedlich: Es gibt manche Blüte, überwiegend sind die Seiten informativ für die Eltern und Konzepte findet man manchmal, manchmal kann man sie nur ahnen (wer nachschauen möchte, hier geht es zu sämtlichen Schulen im Landkreis Mainz-Bingen). Es wäre interessant, wie die Medienkonzepte vor und nach dem Anschaffungsbeschluss des Landkreises zeigten. Ein Indiz, dass nicht alle Schulen bei ihren Medien- und Fortbildungskonzepte bereits vor Anschaffung der iPads diese im Blick hatten sind Volkshochschulangebote wie dieses:

 

Offerte der örtlichen Volkshochschule für Lehrerinnen und Lehrer (hier: WBZ für Weiterbildungszentrum), u. a. mit iPad-Basisschulung vom Einschalten des iPad bis zu den Handlungsoptionen. Videoerstellung mit dem dem iPad und das Gestalten von Unterrichtsmaterial mit dem iPad.

Auch der Veranstaltungskatalog des Landes geht in dieselbe Richtung mit Veranstaltungen wie “IT-Grundlagenschulung: Vorinstallierte Apps auf dem iPad kennenlernen und nutzen (Teil 3)” oder “IT-Grundlagenschulung: Medienkompetenz in der Schule 5: Problemlösen und Handeln (… Apps die mir die Arbeit als Lehrer/in erleichtern.)”.

Die Frage was war zuerst da “Der Wunsch nach iPads oder die Medienkonzepte, die auf iPads fußen?” kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Dazu hätte ich viel mehr Leute befragen müssen und ich habe die Presseanfrage auch bewusst offen gehalten – schließlich ist nicht davon auszugehen, dass dieses Wissen in jenen Zirkeln in denen eine Entscheidung getroffen wird bewusst vorhanden ist, denn hier geht es auch im die Konsequenzen des Marketing. Angesichts des Fortbildungsangebotes kommt man jedoch nicht um die Vermutung herum, dass die Konzeption der iPad-basierten Digitalisierung nicht aus den Lehrerkollegien in Gänze kam. Oder zumindest nicht von wohlinformierten Kollegien, die allesamt Erfahrungen mit iPads haben – wie sonst könnte es ein offenbar angenommenes Angebot geben, das der örtlichen Lehrerschaft zunächst Grundlagen in der Anwendung der Geräte und Konzeption von Unterrichtseinheiten näher bringen soll?

Erinnert sich hier jemand an die vielen Sprachlabore in den Schulen, die in den 1960ern/-70ern und -80ern mit großem Tamtam eingeführt wurden und danach häufig ungenutzt vor sich hingammelten? Eingeführt aus einer Mode mit wenig wissenschaftlicher Evidenz zu ihrer Effizienz? Oder die Computerräume der 1980er, teils ausgestattet mit bei ihrer Einführung alt anmutenden Olivetti-PCs? Meilensteine der Technikgeschichte, oft von engagierten Informatik-Lehrern eingerichtet und durch deren Turnschuhadministration am Leben gehalten wurden, um dann doch irgendwann umgewidmet zu werden? So manche Schule kann mit ähnlichen Geschichten aufwarten.

Mittlerweile konnte man dazulernen. Zur Erstellung von Digitalkonzepten könnte beispielsweise das “Was” und das “Wie” vor dem “Womit” stehen. Bundes- oder landespolitisch wurde das “Was” der Digitalisierung in Schulen kaum diskutiert – auf Kreisebene schon gar nicht. Selbst das “Womit” hat nicht wenige Eltern hier im Kreis bei der Einführung der iPads mit Quasi-Verpflichtung zur Annahme völlig überrascht. Ja, es gibt einen “Digitalpakt” für die Schule, viele Talkrunden und Presseartikel. Aber das “Was”-soll-eigentlich-der-zu-vermittelnde-Inhalt sein, kam dabei reichlich kurz.

Das “Wie”-geht-die-digitalisierte-Didaktik-am-besten ist Sache der pädagogischen Fachleute der Republik. Vielleicht wurden die ja auch gefragt. Jetzt jedenfalls gibt es in der ganzen Republik iPad-Klassen und Samsung-Klassen, die softwaremässig schlucken müssen was geboten wird und somit dem didaktischen Mittel-Diktat der Firmen unterliegen.

Kommen wir hiermit explizit zum “Womit” und implizit zu Aspekten des “Wie”:

Vendor Lock-In und die Konsequenzen

iPads sind tolle Geräte. Und so hat der Kreis einstimmig beschlossen 17.388 iPads für die Schulen des Kreises zu beschaffen. Eine prima Sache! Und auch langfristig angelegt – wie erwähnt ist auch daran gedacht alle 3 Jahre neu zu investieren. Für die Schüler nur das Beste – und auch noch mit einem guten Standard:

Mitglied Hamann betont das Ziel einer Standardisierung im Landkreis. Er begrüßt das Angebot für die Kommunen hinsichtlich der Beschaffungskonditionen. Dies eröffne die Möglichkeit, dass Grundschulkinder bei einem Wechsel auf weiterführende Schulen des Kreises die digitalen Medien bereits kennen. (Quelle)

Alles gut also? Ob die Vermittlung von Medienkompetenz oder verbesserte Fähigkeiten bei der Infinitesimalrechnung wirklich durch den Einsatz von Tablets zu steigern sind, gilt es erst noch zu klären. Fest steht, dass es auch für die Zukunft schwierig wird den Apple-Pfad wieder zu verlassen: Die Verträge sind fürs Erste gemacht, LehrerInnen werden geschult, die Apple-ID vergeben. Wer will denn alle paar Jahre die Unterrichtsmaterialien überarbeiten, weil der Kreis den Anbieter gewechselt hat? Auch nicht zu vergessen: Lagern die Daten erst mal auf der iCloud und sind ausschließlich mit für und mit iPad-Apps erstellt, wird eine Migration zu anderer, günstigerer Hardware schwierig. Die Opportunitätskosten eines späteren Wechsels sind gewiss hoch, Widerstände wären zu erwarten. Aber, liebe LehrerInnen des Kreises: Der Kreistag zu Mainz-Bingen beschloss bereits 2014 sich 60 dieser Geräte zur parpierlosen Gremienarbeit anzuschaffen, es ist also zu erwarten, dass die Gefahr fürs Erste klein ist, schließlich sind die Kreistagsmitglieder in derselben Situation.

Lehrkräfte erwerben somit ein produkt- und technologiespezifisches Wissen und sind bezüglich der technischen Aspekte auch nur in der Lage dieses anzuwenden und zu vermitteln. So ein Firmenbranding irritiert gewaltig. Und es wirkt. Beispiel gefällig? Noch vor ein paar Tagen wurde mir im Brustton der Überzeugung vom Nachbar mitgeteilt an der Schule seines Sohnes würde “ein richtiges Videokonferenzsystem” genutzt. (Der Landesdatenschutzbeauftragte hat für dieses System aus Redmond, WA, nur eine Ausnahmeverlängerung bis zum (Schul-)jahresende gestattet (Link).)

Doch gehen wir mal von der Frage weg, ob es gut ist sich für lange Zeit auf ein Unternehmen x festzulegen – es gab ja auch nur selten zu vor Firmenumbrüche und technologische Brüche – wir haben auch das Problem, dass die auf den Tablets präsentierten Apps keiner öffentlichen Qualitätskontrolle unterliegen:

Früher gab es Schulbücher, die staatlich qualitätsgeprüft waren. Das wirkte wie ein Filter gegen Werbung. Jetzt sehen wir, dass immer mehr digitale Lehr- und Lernangebote gemacht werden, die überhaupt nicht qualitätsgesichert sind.

So der Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbandes (VZBV), Klaus Müller, in einem Interview mit dem Tagesspiegel.

Einmal kurz geträumt

Muss eigentlich die föderale Freiheit auf das kleinste Dorf, pardon …. auf jede kreisfreie Stadt und die Kreise, herunter gebrochen werden, wenn es um die Inhalte digitaler Bildung geht? Bei den Millionen, die nun in die technische Ausrüstung gehen, die viel mehr umfasst als “nur” Endgeräte in Form von Tablets, könnte Geld gespart und auf Landesebene in die Erstellung von Inhalten und maßgeschneiderte Software für die Schulen gehen. Es müssten die Räder auch nicht sechzehnfach neu erfunden werden – eine Zusammenarbeit und Arbeitsteilung zwischen den Ländern, womöglich über Staatengrenzen wäre technisch längst möglich.

Ist politisch vielleicht nicht gewollt. Vielleicht fehlt auch die Phantasie? Zumindest für Schüler in Rheinland-Pfalz gilt: “Die Kompetenz, analytische Fähig­keiten und systemisches Denken zur Lösung von Problemen und zur Erklärung von Phänomenen zu nutzen ist Ausgangspunkt und Initial an der mo­dernen technischen Welt teilzuhaben”.

N.B. Ich bin mir sicher alle christlich motivierten Mitglieder des Kreistags, die ökologisch und sozial motivierten ohnehin, ganz genau die Hintergründe der iPad-Produktion beachtet haben – zum Glück sind diese Fragen nunmehr bestimmt für alle Zukunft unproblematisch geworden.

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