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#Bei lebendiger Dichtung verschwinden

Bei lebendiger Dichtung verschwinden

Lieber Zbigniew Herbert!

Es ist ein wenig spät dafür, Ihnen zu schreiben. Die Chance, Ihnen brieflich näherzutreten, ist, ich weiß es, seit langem vertan. Die Vorstellung, es könnte Sie irgendetwas von dem, was hier und heute geschieht, erreichen, wäre nur eine fromme Illusion. Und dies nicht nur für Christen, auch für die Physiker unter uns, denen immerhin das Experiment der Teleportation von Quantenzuständen über Hunderte Kilometer Entfernung gelang, was zu der Hoffnung Anlaß gab, solche Fernwirkung von Materieteilchen könnte dereinst die gezielte Übertragung von Informationen ermöglichen, auch, warum nicht, ins Weltall hinaus. Nie und nimmer aber wird diese hochtechnifizierte Zauberei mittels Photonen jenen Ort (oder vielmehr Nichtort) erreichen, den man seit den ältesten Zeiten, im Alten Ägypten etwa, das Jenseits genannt hat, ein Reich, das aus den Ebenen Himmel und Unterwelt bestand.

Da, wo Sie jetzt sind, erreicht Sie allenfalls der Donnerhall kosmischer Explosionen, die Strahlung der Atombomben, die hin und wieder getestet werden, oder ein Hauch der Erderwärmung, die uns die Klimaforscher vorrechnen, in der Absicht, die Menschheit als ganze, die Bevölkerung im Digitalzeitalter könnte aus den Fehlern des Industriezeitalters etwas lernen und ihr Verhalten zur Atmosphäre des Planeten ändern. Schwer denkbar, Sie hätten etwas von der riesigen Rauchfahne bemerkt, die am 11. September 2001 von einer Kamera an Bord der Internationalen Raumstation ISS aufgenommen wurde, ein Luftbild der brennenden Twin Towers des New Yorker World Trade Center, Momente bevor diese krachend in sich zusammenstürzten, was die politische Landkarte auf dieser Erde für immer veränderte. Krieg im Orient, Terror weltweit, Flucht und Vertreibung von Millionen, eine nicht mehr zur Ruhe kommende Flüchtlingswelle von Afghanistan bis ins innerste Afrika waren die unmittelbaren und mittelbaren Folgen.

Ich kann Ihnen nur sagen, das war die Zäsur, mit der das 21. Jahrhundert begann, das Sie, 1998 in Warschau verstorben, nicht mehr erlebt haben. Eine plötzliche Nostalgie, die mich, der ich wie Sie ein Kind des zwanzigsten Jahrhunderts bin, seither erfaßt hat, läßt hier etwas wie Neid aufblitzen – ein Gefühl, für das ich mich schäme. Ich kann den Vers nicht vergessen, den Paul Valéry mir mit auf den Weg gab in seinem Gedicht „Der Friedhof am Meer“ (Le Cimetière Marin): „Le vent se lève! … Il faut tenter de vivre!“ Ein Wind kommt auf! … Und es ist Zeit zu leben!

Bestimmt kannten auch Sie diesen Vers. Ein grundsätzlicher Optimismus in allem, was ich von Ihnen las, und bei allem Sarkasmus, der mir nicht entgangen ist, läßt darauf schließen, daß auch Sie den Wind, von dem da die Rede ist, gespürt haben müssen. Sie, der die Schrecken des Zweiten Weltkrieges, die Okkupation Polens durch meine Vorfahren, die brutale Besatzungspolitik der Himmler und Frank, diese gezielte Niedertracht, auf polnischem Boden zuerst die Judenghettos, dann die Vernichtungslager zu errichten, als junger Mensch miterlebt haben. Polen und Deutschland, das war über Jahrhunderte hinweg ein problematisches Nachbarschaftsverhältnis, zuletzt ein mörderisches. Wem sage ich das?

Ihnen, dem geborenen Demokraten, der seither Abstand hielt zu allen Formen politischer Tyrannei und sich als Schüler der Philosophie, Liebhaber des kritischen Denkens, gegen jede Ideologie wappnete. Ihnen, der nie vergessen konnte, wie das alles anfing mit dem berüchtigten Hitler-Stalin-Pakt, der zum Massaker an der polnischen Offizierselite im Wald von Katyn führte, zur Zerreißung des Landes zwischen den Drachen der beiden Diktaturen und schließlich, nach dem Sieg der Roten Armee, zur sowjetischen Hegemonie in diesem schönen alten Kulturgelände zwischen Oder und Bug, das wir heute die Republik Polen nennen. Der Krieg war zu Ende, und wer damals inmitten der Trümmer in sich den neuen Europäer entdeckte, muß diesen Wind gespürt haben.

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