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#„Bevor du kamst, war hier alles schön“

„Bevor du kamst, war hier alles schön“

Wenn die Nachbarskinder auf einmal keine Freunde mehr sein wollen, wird es hart.
Wenn die Nachbarskinder auf einmal keine Freunde mehr sein wollen, wird es hart.

„Schlaflos“ ist der Name dieses Familienblogs. Meistens geht es um Herausforderungen, die uns Eltern im Alltag mit unseren Kindern begegnen. Manches ist lustig oder ernst, anderes ärgerlich oder einfach lästig. Manchmal nagen Dinge so tief an uns, dass wir wirklich schlaflose Nächte haben. Vor allem, wenn wir diese Dinge nicht selbst in der Hand haben. So war es jetzt bei mir. Dieser Text war schon seit Wochen fertig. Er wartete eigentlich nur noch darauf, veröffentlicht zu werden. Aber, so ist das als Autor und Vater, manchmal grätscht dir das Leben dazwischen und haut dir eine fertige Geschichte von den Beinen. In diesem Fall bin ich dankbar dafür.

Das war mein ursprünglicher Einstieg: Es klingelt. Ich mache auf. Sechs Kinder schauen mich mit ernsten Mienen an. Sie stehen nicht direkt vorm Eingang, sondern lehnen am Zaun zum Nachbargrundstück, gut fünf Meter entfernt. Alle tragen Winterklamotten, sie kommen vom Rodeln. Als sie losgingen, waren sie zu siebt. Der, der fehlt, ist mein Sohn Theo. Die Kinder stehen dicht nebeneinander. Wie eine Wand, denke ich. Dann ergreift ein Junge das Wort: „Theo hat gesagt, er ist nicht mehr unser Freund. Er ist mit einem anderen Jungen nach Hause gegangen.“ „Okay“, antworte ich und bin im ersten Moment erst einmal erleichtert, dass sie mir sagen, wo Theo steckt. Dann frage ich: „Was ist denn passiert?“ „Wir waren rodeln. Theo wollte mit seinem Schlitten Schnee holen. Plötzlich hat er uns angeschrien: ‚Ihr seid keine Freunde! Ich gehe jetzt zu dem anderen Jungen nach Hause, das ist jetzt mein Freund!’“ „Aha“, sage ich. „Und sonst ist nichts passiert? Ihr habt gar nichts gemacht?“ „Nein“, antworten zwei der Kinder, zwei andere nicken, und die anderen beiden machen gar nichts. „Okay. Danke fürs Bescheidsagen“, sage ich und schließe die Tür.

Natürlich habe ich Theo später gefragt, was aus seiner Sicht passiert ist. Er schildert die Sache anders, natürlich. Die anderen Kinder hätten vorher seinen Schlitten genommen, ohne ihn zu fragen, und obwohl er nein gesagt hätte, wären sie damit gefahren. Dann hätten sie ihn angemeckert, er solle sich mit dem Schneeholen beeilen, und dann habe es ihm gereicht. Er sei nicht mehr ihr Freund, habe er sie angeschrien, und dann sei er mit dem anderen Jungen gegangen. Eigentlich keine große Sache. Ein Streit, wie er immer mal wieder vorkommt. Eine Banalität, könnte man sagen. War es aber nicht.

Am nächsten Tag ging Theo zum Spielen raus auf die Straße zu den anderen Kindern. Kurze Zeit später kam er mit hängendem Kopf wieder rein. Die beiden Jungen hatten ihm erklärt, dass die anderen Kinder nicht mehr mit ihm spielen wollten. An dieser Stelle muss ich kurz die Struktur unserer Nachbarschaftsgruppe erklären: Theo ist acht Jahre alt. Die zwei großen Jungen werden bald zwölf. Sie sind drei Klassen über ihm. Dazu kommen drei Mädchen zwischen elf und acht Jahren und ein siebenjähriger Junge. Mit ihm trifft sich Theo am häufigsten.

So auch am nächsten Tag: Theo klingelte nebenan. Der Streit vom Vortag kam zwischen den beiden noch einmal zur Sprache, aber sie spielten miteinander. Dann kamen die großen Jungen. Im Keller nahmen sie Theo in die Mangel. „Wir wollen nicht mehr mit dir spielen, das haben wir doch gesagt. Hier war früher alles schön, bevor du kamst.“ Theo konnte aus der Situation herauskommen, ohne den anderen seine Emotionen zu zeigen. Aber zu Hause brach er in Tränen aus.

Wir wohnen in einer kleinen Sackgasse, zu der nur vier Familien Zugang haben. Die Einfahrt, die Garagen, die Gärten – alles ist miteinander verbunden. Es ist ein Paradies für Kinder. Aber es ist eine Hölle für ein Kind, das ausgeschlossen wird.

„Bevor du hier warst, war alles schöner“ – das ist ein ziemlich heftiger Satz für einen Achtjährigen, vor allem wenn er aus dem Mund von zwei älteren Kindern kommt, die wahrscheinlich wissen, wie sehr sie ihn damit verletzten. Theo war ausgeschlossen.

Meine Frau und ich beschlossen, die Sache zu klären. Wir schlugen ein Gespräch zwischen den Kindern vor – mit den Müttern als Moderatorinnen und Vermittlerinnen. Die Kinder sollten einander zuhören und verstehen, wie die anderen die Situation erlebt haben. Die Eltern eines der älteren Jungen waren gegen dieses Gespräch. Warum, wurde mir nicht ganz klar. Wahrscheinlich wollten sie die Entscheidung ihres Kindes respektieren, nicht mehr mit Theo zu spielen. Das ist natürlich ihr gutes Recht und vollkommen in Ordnung. Trotzdem hatten wir daran zu knabbern. Es erschien uns nicht richtig.

Eine Aussprache hätte für mich nicht automatisch auch eine Versöhnung bedeutet. Die Kinder hätten auch so auseinander gehen können: Wir haben uns gestritten, ich bin sauer, wir machen jetzt erst einmal eine Spielpause. Das wäre ein Szenario gewesen. Aber wir haben sie nicht miteinander reden lassen und den Kindern allein die Entscheidung überlassen. Aus meiner Sicht haben wir als Eltern hier versagt.

Aus Sicht des fast Zwölfjährigen und seiner Familie war das in Ordnung. Sie hatten ja auch kein Problem damit. Für uns war es eine richtige Belastung. Zumal wir mitten im Lockdown waren. Wenn die Nachbarskinder draußen nach dem Homeschooling miteinander spielten, war unser Sohn allein. Natürlich hörte er die anderen, wenn sie schrien und juchzten. Jeden Tag. Ein Achtjähriger, ein fröhliches, kontaktfreudiges Kind, wurde zum Außenseiter gemacht. Isoliert von den anderen, weil es zwei Fast-Teenager so wollten. 

Wenn Theo in seinem Kinderzimmer aus dem Fenster schaut, sieht er direkt in das Zimmer des Nachbarjungen. Einmal sah er die drei Jungen dort miteinander spielen. Sie sahen zu ihm rüber, zogen Grimassen, lachten und machten sich über ihn lustig. Er ließ die Jalousie herunter und kam traurig zu mir. Darauf spielte ich anderthalb Stunden mit ihm Fußball – natürlich mit hochgezogener Jalousie. Als die Jungen mich sahen, verschwanden sie vom Fenster. Nicht, dass ich mich gut dabei gefühlt hätte. Es ist nicht zu leugnen, ich bin ein emotionaler Mensch.

Auf der anderen Seite habe ich Verständnis für die drei, vor allem für die älteren. Bevor wir hierherzogen, war ihre Welt intakt. Die Rollen waren verteilt. Dann kam der neue Junge aus Berlin mit der großen Klappe und einem starken Charakter, der beim Spielen gerne die Regeln aufstellt und sich vom Alter der anderen nicht einschüchtern lässt. Logischerweise sorgt das für Reibereien. Darauf haben ältere Kinder keine Lust. Als ich zwölf war, hätte ich mir von keinem „Furzknoten“ etwas erzählen lassen. Zudem sind die Jungen in der Schlusskurve zur Pubertät. Da ist sowieso alles komisch und nichts mehr wie vorher.

Trotzdem, bei allem Verständnis: Vier Wochen isoliert im Lockdown, das ist zu hart. Das ist unangemessen. Theo hatte weder geschlagen, noch gestohlen oder sonst etwas ähnlich Schlimmes gemacht. Er ist laut, selbstbewusst und manchmal egoistisch. Er kann damit furchtbar nerven. Aber er ist weder brutal, noch feige oder hinterhältig.

Das gute Verhältnis zu den Nachbarn kühlte merklich ab. Es frostete, drinnen und draußen. Wir grüßten einander, befreiten in stiller Übereinkunft unseren Hof vom Schnee – das war es aber auch. Mit den Eltern des Siebenjährigen sprachen wir. Das tat gut. Aber was sollte ihr Junge machen? Er saß zwischen den Stühlen. Mit den Eltern des Älteren gab es bis auf das Grüßen keine Gespräche. Eiszeit im Lockdown. Unsere sechsjährige Tochter traute sich nicht, die Schwestern des Jungen zu fragen, ob sie mit ihr spielen wollen. Aus Angst, in den Konflikt hineingezogen zu werden.

Ich gehe Konflikten selten aus dem Weg. Mit unseren Kindern fechten wir Meinungsverschiedenheiten aus, und im besten Fall klären wir sie. Wir sprechen über alles und sind überzeugt, dass ihnen das bei künftigen Konflikten nützen wird. Das Schweigen der Nachbarn mussten wir akzeptieren, aber es fiel insbesondere mir schwer. Keine Kommunikation ist halt auch Kommunikation. Zumal ich weiß, dass unsere Nachbarn das Gespräch suchen, wenn eines ihrer Kinder aus ihrer Sicht nicht korrekt behandelt wird.

Am vergangenen Wochenende nahm die Geschichte dann einen unerwarteten Lauf. Als ich vom Brötchenholen zurückkam, hörte ich in Nachbars Garten Kinder auf dem Trampolin spielen. Mittendrin hüpfte unser Theo. Er jauchzte und alberte mit den anderen herum, als wäre nichts gewesen. Fassungslose Freude ist wohl der Begriff, der meinen Gemütszustand in diesem Moment am besten beschreibt. Theo kam nicht zum Frühstück. Die Kinder spielten den ganzen Tag – auf dem Hof, im Garten, auf dem Bolzplatz oben bei der Schule.

Am Abend fragten wir ihn, wie die Versöhnung zustande kam. Theo hatte sich im Garten mit dem siebenjährigen Jungen unterhalten. Das hatte der Ältere aus seinem Fenster gesehen und die beiden zu sich in den Garten gerufen. Beim Trampolinspringen hatte sich dann jeder beim anderen entschuldigt. So einfach war es. Ob das sonnige Frühlingswetter bei der Versöhnung eine Rolle spielte, kann ich nicht sagen.

Von Friede, Freude, Eierkuchen sind wir noch ein Stück entfernt. Inzwischen ist eine weitere Woche vergangen. Es gab wieder ein paar Konflikte. Im Grunde läuft es aber ganz gut.

Es gehört zu diesem Blog, dass wir den Leser*innen etwas an die Hand geben, das ihnen bei der Bewältigung eines Problems nützlich sein kann und sie bestenfalls wieder gut schlafen lässt. Ich tue mich in diesem Fall etwas schwer damit. Es gibt kein Patentrezept für den Umgang mit einem Kind, das in seinem Freundeskreis plötzlich in Ungnade fällt. Man kann selber wenig tun. Geduld und Vertrauen in die beteiligten Personen haben sich am Ende ausbezahlt. Aktiv sollte man sein Kind in einer solchen Situation immer wieder bestärken und ablenken. Schon in der Homeschooling-Phase haben wir Theo regelmäßig mit Kindern aus der Schule und der Fußballmannschaft verabredet. Das hat ihm gutgetan. Er war ausgeglichener und nicht im ständigen Wettbewerbsmodus wie mit den Großen. Auch wenn er jetzt wieder mit den Nachbarskindern spielt, streuen wir tageweise Pausen ein.

Für mich selbst hoffe ich, dass mich Konflikte künftig nicht mehr so mitnehmen. Steuern kann ich das nicht. Ich ermahne mich zu Gelassenheit und werde versuchen, auf die Erfahrungen aus dieser Zeit zurückzuschauen. Wir haben nicht alles in der Hand, das ist die größte Lehre. Ich kann von anderen Eltern nicht erwarten, mit ihren Kindern so umzugehen, wie ich es gerne hätte. Das zu akzeptieren, ist die größte Aufgabe.

Schlagwörter: Außenseiter, Erziehungsmethoden, Geduld, Hilflosigkeit, Isolation, Konflikt, Konfliktlösung, Mobbing, Nachbarschaft, Streit, Versöhnung, Vertrauen

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