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#Blicke, an denen man sich schneiden kann

„Blicke, an denen man sich schneiden kann“

Auf Filmfestivals gehen Realität und Fiktion manchmal auf seltsame Weise inein­ander über. Da schaut etwa ein italienischer Journalist Sekunden vor Beginn der Filmvorführung auf seinem Smartphone noch einmal den Trailer von Todd Fields neuem Film „Tár“ an, der hier gleich gezeigt wird. Und wenn der Film anfängt, ist schon wieder ein Smartphone zu sehen, diesmal auf der Leinwand, übergroß ins Bild gerückt. Das Display zeigt scharf, was unscharf im Hintergrund passiert: Cate Blanchett liegt zusammengesunken über einem Flugzeugtischchen, die Augen von einer Schlafmaske bedeckt, den Mund im unbequemen Transitschlummer halb geöffnet. Der Voyeur hinter dem Smartphone sendet die Aufnahme als Livevideo, chattet mit einer zweiten Person und tauscht ironische Sprüche über die sonst so harte und unnahbare Dirigentin Lydia Tár aus, die Blanchett hier verkörpert. Erst viel später sollen wir erfahren, wer das Video aufgenommen hat.

Der Smartphoneblick verweist schon hier auf den Konflikt zwischen Öffentlichkeit und Privatleben, in dem sich die Hauptfigur bald wiederfinden wird. Der Regisseur Todd Field führt sie geschickt ein: Während ein New Yorker Journalist sie auf einer Podiumsveranstaltung vorstellt und dabei ihre Vorzüge und Verdienste aufzählt – Lydia Tár ist Chefdirigentin eines der wichtigsten Orchester der Welt, Mahler-Expertin, Emmy-, Grammy-, Oscar- und Tony-Gewinnerin –, zeigt der Regisseur Cate Blanchett bleich vor Aufregung, bevor sie auf die Bühne muss, nur um im Scheinwerferlicht sofort ein gewinnendes Lächeln zu präsentieren. Wir sehen, wie sie Maßanzüge ordert, Notenblätter auf ein Klavier klemmt, Dutzende Platten auf dem Parkett eines weitläufigen Apartments verteilt, sich mit nackten Füßen zwischen ihnen bewegt und mit dem großen Zeh wegwischt, was ihr unpassend erscheint. Wir sehen eine Person, der nichts mehr bedeutet als ihre Arbeit und die keine Fehler duldet, am wenigsten von sich selbst.

Ein kleines nervöses Fingerzucken

Todd Field hat bislang nur zwei Spielfilme gedreht, „In the Bedroom“ (2001) und „Little Children“ (2016), für beide erhielt er höchstes Lob, seine Drehbücher waren oscarnominiert. „Tár“ ist sein dritter Film, nach 16 Jahren Pause. Field hat seine Karriere als Schauspieler begonnen, unter anderem in Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut“; als Regisseur legt er größtes Augenmerk darauf, seinen Darstellern so viel Platz wie möglich einzuräumen. Das Konzept geht auf, er hat nur mit den besten gearbeitet. So liefern sich im Ehedrama „In the Bedroom“ Sissy Spacek und Tom Wilkinson Blickduelle, an denen man sich schneiden könnte, und in „Little Children“ baut sich zwischen Kate Winslet und Patrick Wilson über kleinste Gesten kaum erträgliche Spannung auf. Field unterstützt seine Darsteller durch kluge Kameraarbeit. Nimmt ihre Gesichter in den Fokus, fängt Details ein.

Cate Blanchett etwa zeigt ihre Erregung auf der Podiumsveranstaltung durch ein kleines nervöses Fingerzucken, das sich ihre Lydia Tár jedoch nur auf der dem Publikum abgewandten Körperseite erlaubt. Die Kamera schafft es auch, wenn Tár ihre Frau Sharon (großartig gespielt von Nina Hoss) umarmt, die Gesichter beider Frauen im Blick zu behalten und so den Zuschauern zu ermöglichen, die Worte, die sich die Frauen sagen, über Mimik und Gestik auf Wahrheiten abzuklopfen. Nina Hoss ist Blanchett in Talent und Können ebenbürtig. Wenn sich ins Spiel mit Macht und Ego auch noch Sex schleicht und eine junge Cellistin der Dirigentin schöne Augen macht, genügt ein Blick von Hoss, um zu zeigen, dass die Ehe der beiden Frauen mehr Abgründe hat, als die heile Fassade vermuten lässt.

Traumsequenzen gehen nahtlos ineinander über

Da die Festivalprogrammierung manchmal seltsame Querverweise zwischen Filmen herstellt, ringt auch bei Alejandro Iñárritus „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ ein Mann mit seiner Kunst. Silverio ist Dokumentarfilmer, hat sich in Mexiko als investigativer Journalist einen Namen gemacht und dann viele Jahre in den USA gelebt. Nun soll er mit Ende fünfzig in Los Angeles einen Preis für seine Arbeit entgegennehmen und gerät darüber in Selbstzweifel. „Jahrelang habe ich die Zustimmung von Leuten gesucht, die mich verabscheuen“, wird er seiner Frau sagen und sich immer mehr zwischen Realität und Traum verlieren. Gegen „Bardo“ wirken Iñárritus Vorgängerfilme „Birdman“ oder „The Revenant“ fast schon konventionell.

Szene aus Alejandro Iñárritus „Bardo“


Szene aus Alejandro Iñárritus „Bardo“
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Bild: AP

Die Traumsequenzen gehen nahtlos ineinander über, mal mit schwärzestem Humor gespickt (ein Baby, das nicht auf der Welt sein will, wird kurzerhand wieder in den Mutterleib geschoben), mal mit historischen Abrechnungen versehen (auf einem Leichenberg diskutiert Silverio mit dem spanischen Eroberer Cortéz) oder in aktuelle politische Krisen verstrickt. In Mexiko-Stadt kippt eine Frau reglos auf die Straße. „Ich bin nicht tot, nur vermisst. Sie wollen gar nicht wissen, was geschehen ist“, flüstert sie. Um sie herum fallen Dutzende Menschen zu Boden, ein Bild für die Personen, die täglich in Mexiko verschwinden, ohne dass ihre Geschichten in den Nachrichten auftauchen würden. So wirft einen der Film härter in die Realität zurück, als es Schlagzeilen auf dem Smartphone könnten.

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