Wissenschaft

#Corona aufarbeiten – was heißt das und was haben Elefanten und Gorillas damit zu tun? – Gesundheits-Check

Folgenreiche Kommunikationsstörungen

Die Coronakrise war von Anfang an von kommunikativen Schizophrenien geprägt, die ihren Ausgangspunkt von der Wahrnehmung des Verhältnisses von Sicherheit, Freiheit und Solidarität nahmen. Beispielsweise haben sich Querdenker lautstark auf Demos darüber beklagt, dass man in einer angeblichen „DDR 2.0“ seine Meinung nicht mehr sagen dürfe, flankiert von Professoren, die in auflagenstarken Leitmedien schrieben, sie würden nicht gehört. Die Politik wiederum hat es fertiggebracht, permanent an die Verantwortung der Menschen für sich und andere zu appellieren und ihnen die Fähigkeit und Bereitschaft dazu zugleich durch manchmal absurde Verhaltensvorschriften abzusprechen. Das kurzzeitige Verbot, auf einer Parkbank zu sitzen, war eines der besonders grotesken Beispiele. Spiegelbildlich dazu gab es trotz aller für jedermann und jedefrau sichtbaren schweren Verläufe und Sterbefälle, vor allem bei den Älteren, ein bisher nicht gekanntes Maß an Dummheit und verantwortungslosem Geschwätz über ein angeblich völlig harmloses Virus oder einen gezielten Massenmord durch Impfung, was das Vertrauen in die Verantwortungsfähigkeit mancher Menschen doch sehr auf die Probe stellt.

Therapieempfehlungen

Diese Sachlage hat zu der allerorten beklagten Polarisierung der Gesellschaft beigetragen. Nun haben Forderungen nach einer „Aufarbeitung“ der Pandemie Konjunktur. Die vielen Lessons-learned-Papiere aus der Wissenschaft oder den diversen Politikberatungs-Gremien sind damit offensichtlich nicht gemeint, sondern etwas Übergreifendes, auf das Gesamtbild und das gesellschaftliche Miteinander Zielendes, ein Untersuchungsausschuss oder eine Enquete-Kommission. Damit soll, der Eindruck drängt sich auf, in einer Art Gruppentherapie das Verhältnis von Sicherheit, Freiheit und Solidarität wieder ins Lot gebracht werden.

Im April gab es beispielsweise einen Aufruf zu einer solchen Kommission auf einer Internetseite namens „Pandemieaufarbeitung“, mit prominenten Namen wie Gerd Antes, Klaus Stöhr, Wolfgang Streeck oder Jürgen Windeler, unter die sich auch allerhand mehr oder weniger querdenkende Geister wie Boris Kotchoubey, Ines Kappstein, Christoph Lütge, Günter Kampf, Martin Hirte, Markus Veit oder Ulrike Guérot gemischt haben. In dem Fall mag das passend sein: Wenn es um die Überwindung von Spaltungen gehen soll, müssen die verschiedenen Seiten beteiligt sein. Sucharit Bhakdi, Wolfgang Wodarg oder Harald Walach gehören (bisher) übrigens nicht zu den Unterzeichnern, aber das würde vielleicht die sozialtherapeutischen Möglichkeiten einer Aufarbeitungskommission auch überfordern.

In dem Aufruf heißt es u.a.:

„Eine offene, kritische und konstruktive “Nachbesprechung” ist unverzichtbarer Teil eines jeden professionellen Krisenmanagements. Dabei ist neben dem objektiven Lernprozess auch die integrative Wirkung einer offenen Debatte auf die Zivilgesellschaft wesentlich.
(…)
Wir wünschen uns im Sinne des gesellschaftlichen Friedens und im Interesse einer konstruktiven Nachbereitung der Pandemie breite, überparteiliche Unterstützung für die Einrichtung einer solchen Kommission. Die Nachbereitung der Pandemie erfordert ebenfalls ein erhebliches, auch selbstkritisches Engagement der deutschen Wissenschaftsgemeinschaft. Zu guter Letzt muss die Aufarbeitung der Pandemie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden werden. Die Menschen in unserem Land müssen als Subjekte mit eigener Stimme beteiligt werden.“

Warum nicht. Die Initiatoren wollen u.a. über Fehlerkultur, die Organisation der Forschung, wissenschaftliche Politikberatung oder die Kommunikation von Politik und Behörden sprechen. Sozusagen über alles. Über alles?

Etwas fokussierter antwortet Heribert Prantl in der Süddeutschen am 13./14. Mail auf die Frage „warum es eine Aufarbeitung so dringend braucht“:

„Womöglich haben die Menschen in den drei Jahren der Krise etwas Falsches gelernt; womöglich haben sie sich daran gewöhnt, dass heftige Einschränkungen der Grundrechte zu den Bewältigungsstrategien einer Krise gehören und dass auch das Unverhältnismäßige in Großkrisen als verhältnismäßig gilt. Das könnte sich bei anderen Katastrophen, bei der Klimakatastrophe beispielsweise, fortsetzen. Zur Aufarbeitung der Corona-Zeit gehört daher die Selbstvergewisserung darüber, was der innerste, abwägungsfeste Kern des freiheitlichen Rechtsstaats ist.“

Prantl sieht dabei auch, dass Freiheit alleine zu wenig Einbindung hat und bringt die Menschenwürde als Fundament ins Spiel:

„Die Würde des Menschen ist nicht antastbar, nie und unter gar keinen Umständen. Zu dieser Würde gehört auch die Achtung des Kerns der privaten Lebensgestaltung; er muss jeder Abwägung entzogen bleiben. Das ist der wahre Inhalt eines Grundrechts auf Sicherheit: Es ist die Sicherheit der Menschen im Recht.“

Zwar wird die Würde des Menschen in unserer Gesellschaft tagtäglich angetastet, in den Pflegeheimen, in den Fleischfabriken und anderen Niedriglohnbereichen oder in der Flüchtlingspolitik. Aber das spricht natürlich nicht gegen Prantls Forderung.

Das Ganze und der Elefant …

Eher irritiert an diesen aufs Ganze gehenden Forderungen, dass sie politisch in einer Hinsicht auffällig unvollständig sind, oder vielleicht zurückhaltend. Manfred Wildner, Schriftleiter der Zeitschrift „Gesundheitswesen“ und mit der wissenschaftlichen Bewertung der Pandemie von Anfang an befasst, betont ebenfalls, dass man bei der Pandemie verschiedene Aspekte zusammenbringen muss und allein schon bei den gesundheitlichen Dimensionen die biomedizinische Perspektive, so wichtig sie ist, natürlich nicht ausreicht.

Er verweist dazu auf die bekannte Geschichte von vier blinden Menschen, die jeweils unterschiedliche Körperpartien eines Elefanten abtasten und ihn dann beschreiben, indem sie ihre jeweilige Perspektive für das Ganze halten. Der die Beine abgetastet hat, hält den Elefanten für etwas Baumartiges, der den Rüssel hatte, für etwas langes und spitz Zulaufendes, der am Bauch für eine Wand und der am Schwanz für etwas wie ein Seil. Es gibt viele ähnliche Allegorien dazu, dass manchmal das, was man unmittelbar wahrnimmt, nicht alles ist, von Platons Höhlengleichnis bis zu Lessings Ringparabel. Der Elefant sieht nicht aus wie sein Rüssel, die Pandemie ist nicht nur ein infektionsepidemiologisches Ereignis.

… und der Gorilla

Zur Wahrnehmung der Coronakrise gehört noch ein anderes Tier, der Gorilla im Spielfeld, der nicht gesehen wird. Die amerikanische Psychologin Nancy Fraser macht in ihrem Buch „Der Allesfresser“ darauf aufmerksam, wie sehr der Verlauf der Coronakrise durch den Kapitalismus geprägt wurde, angefangen davon, dass das Überspringen des Virus auf den Menschen vermutlich durch die Störung von Ökosystemen und Wildtierhandel begünstigt wurde, über den neoliberalen Abbau sozialstaatlicher Infrastrukturen, die man für die Bewältigung von Krisen braucht – der ÖGD steht hier pars pro toto, oder die sozial höchst ungleichen Folgen der Pandemie bis hin zu den Krisengewinnlern, die in der Krise blendende Geschäfte auf Kosten der Allgemeinheit machen konnten. Ihr Fazit (S. 259 f):

„Ganz allgemein ist Covid also eine wahre Orgie kapitalistischer Irrationalität und Ungerechtigkeit. Indem die Pandemie die dem System innewohnenden Mängel bis zum äußersten zuspitzt, wirft sie ein grelles Licht auf die verborgenen Stätten unserer Gesellschaft. Indem die Pandemie sie aus dem Schatten ans Tageslicht zerrt, macht sie die strukturellen Widersprüche des Kapitalismus für alle sichtbar: das dem Kapitel innewohnende Bestreben, die Natur bis an den Rand eines planetarischen Brandes zu kannibalisieren, unsere Kapazitäten von der sozialen Reproduktion wegzulenken, die Leistungsfähigkeit öffentlicher Institutionen bis zu dem Punkt auszuhöhlen, an dem sie die Probleme, die das System erzeugt, nicht mehr lösen können; seine Tendenz, sich von dem immer geringer werdenden Wohlstand und der schlechter werdenden Gesundheit rassifizierter Menschen zu ernähren sowie die Arbeiterklasse nicht nur auszubeuten, sondern auch zu enteignen“.

Auch Fraser fordert eine Aufarbeitung:

„Doch jetzt kommt der schwierige Teil: die Umsetzung dieser Lektion in die soziale Praxis. Es ist an der Zeit, endlich herauszufinden, wie man die Bestie aushungern und dem kannibalischen Kapitalismus ein für alle Mal ein Ende machen kann.“

Man kann Nancy Frasers Buch einen Mangel an analytischer Stringenz vorhalten, dass sie zu assoziativ und appellativ argumentiert, aber sie hat Recht damit, dass zu einer Aufarbeitung der Pandemie die Rolle des Kapitalismus gehört, die Reflexion über die „Wirtschaft, die tötet“, wie es Papst Franziskus einmal unmissverständlich formulierte, und die Veränderung dieser Wirtschaft.

Kapitalismus ist der Elefant im Raum, über den im Zusammenhang mit Corona aber kaum gesprochen wird, bestenfalls anonymisiert als „unser Lebensstil“. Der Begriff Kapitalismus kommt in den Lessons-learned-Papieren praktisch nicht vor und ist daher auch nicht Gegenstand analytischer Überlegungen und praktischer Zielsetzungen. Dass ihn Virologen und Epidemiologen nicht im Blick haben, mag wenig überraschen und vielleicht steht liberalen Beobachtern wie Heribert Prantl die „Freiheit“ so unvermittelt vor Augen, dass sie den Horizont dahinter nicht mehr sehen. Interessanterweise liest man aber auch aus dem linken Milieu dazu kaum kluge Analysen. Stattdessen sind manche dort zu Verschwörungstheorien abgedriftet und vermutlich für vernünftige Gespräche über die Zukunft unseres Miteinanders nicht mehr zu gewinnen. Für diese Zukunft wird es aber mehr brauchen als Meldewege im Infektionsschutz zu digitalisieren, Masken für die nächste Pandemie zu bevorraten oder sich darauf zu verständigen, dass Grundrechte nicht einfach durch Allgemeinverfügungen eingeschränkt werden dürfen. Ohne eine weitergehende Gesellschaftskritik bleibt die Aufarbeitung der Pandemie unvollständig.

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