#Das Auge des Exils
Inhaltsverzeichnis
„Das Auge des Exils“
Hier ist Paris. Heinrich Mann hat seine Lesebrille auf dem Tisch im Hotel Lutetia abgelegt, er wirkt erschöpft. Alfred Döblin stützt zweifelnd den Kopf in die Linke. Walter Mehring genehmigt sich ein Glas Wein. Der Journalist Wolf Franck sitzt im Café vor einem Schnapsglas und einer Karaffe mit Soda und studiert „Le Monde“. Klaus Mann, im Anzug mit Wollkrawatte und Schal, liest einen Brief. Und Egon Erwin Kisch zündet sich vor dem Eingang zum Schlosspark von Versailles eine Zigarette an.
Fred Stein hat sie alle fotografiert, die Großschriftsteller und die Kleintalente, die berühmten und die weniger berühmten Namen des deutschen Exils. Er kannte sie, weil er mit ihnen am Tisch und in den Hotellobbys saß, weil er dieselben Bistros besuchte und in denselben Parks spazieren ging. Denn auch Fred Stein, Sohn eines Dresdner Rabbiners, lebte im Pariser Exil, nachdem er seine Stellung als Justizreferendar durch die Rassenpolitik der Nationalsozialisten verloren hatte und mit seiner Frau Liselotte im Herbst 1933 aus Deutschland geflohen war.
Paris war die Hauptstadt der Fotografie
Zur Hochzeit hatten sich die Eheleute gemeinsam eine Leica gekauft, und mit der Kamera als Arbeitsinstrument schuf sich Stein in Frankreich eine neue Existenz. 1934 gründete er ein Fotostudio, ein Jahr später wurden seine Straßen- und Porträtaufnahmen erstmals in einer Galerie gezeigt, ab 1937 gehörte Stein zum Vorstand des deutschen Journalistenverbands in der Emigration.
Paris war damals die Welthauptstadt der Fotografie. Man Ray, André Kertész, Germaine Krull, Cartier-Bresson und andere arbeiteten hier, Robert Capa nutzte Fred Steins Dunkelkammer, Capas Lebensgefährtin Gerda Taro war eine Untermieterin des Ehepaars Stein. Die Straßenfotos, die das Deutsche Historische Museum im ersten Teil seiner Ausstellung zu Steins Lebenswerk zeigt, sind so gesehen nichts Ungewöhnliches: ein Liebespaar im Gegenlicht einer Straßenlaterne; der illuminierte Brunnen vor der Porte St. Cloud; eine Blumenverkäuferin vor dem Eingang eines Varietés; Passanten, Kinder, Angler, Jahrmarktsbesucher.
Ein Fotoalbum des Exils
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Aufnahmen von Fred Stein aus den dreißiger Jahren
Andererseits hatte Stein, der Mitglied der SPD und der kurzlebigen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands gewesen war, einen scharfen Blick für die soziale Realität der Weltwirtschaftskrise. Ohne Weichzeichner dokumentiert er das Elend der Großstadt. Eine Frau hat sich neben einer Metro-Station zum Schlafen hingelegt. Ein Mann ist rücklings auf dem Trottoir zusammengebrochen. Vor den Brandmauern in den ärmeren Vierteln sammelt sich der Müll. Auch für das jüdische Leben in seiner Exilheimat hat sich Stein interessiert. Hebräische Schriftzeichen auf Ladenschildern und Schaufenstern sind ein wiederkehrendes Motiv seiner Arbeiten. Auch auf den Bildern aus New York, der dritten wichtigen Station seines Lebens, wird man ihnen begegnen.
Die Ausstellung im DHM ist, nach der Retrospektive des Jüdischen Museums in Berlin, schon die zweite Stein-Werkschau binnen sieben Jahren. Zuvor aber war er jahrzehntelang vergessen. Dabei zirkulierten seine ikonischen Porträts von Albert Einstein und Hannah Arendt nach seinem frühen Tod im Jahr 1967 weiter in der Magazin- und Tagespresse. Doch in der Rückschau trat Steins nüchterne Meisterschaft hinter die Kunstfotografie seiner Zeitgenossen zurück. Auch heute noch muss man zweimal hinschauen, um zu erkennen, wie genau seine Aufnahmen komponiert sind. Wenn er Arthur Koestler beim Korrigieren von Druckfahnen oder Bertolt Brecht im träumerischen Halbprofil zeigt, sind das keine Schnappschüsse, sondern Folgen intensiver Beobachtung.
Ein Zimmer, zwei mal drei Meter im Quadrat
Stein konnte zuhören, das haben viele der von ihm Porträtierten bestätigt. Auf den Schriftstellerkongressen der dreißiger Jahre, mit denen die deutsche Geisteselite die Weltöffentlichkeit aufzurütteln versuchte, öffnete ihm diese Fähigkeit alle Türen. Ohnehin boten Tagungen und Konferenzen die beste Gelegenheit, den Großen des Exils zu begegnen, deren private Lebensumstände oft so beengt waren, dass sie sie schamvoll verbargen. „2,40 mal 3,50 im Quadrat“ seien die Maße seines Zimmers gewesen, erinnerte sich der Schriftsteller Hans Sahl. Als einer von wenigen gewährte Alfred Kantorowicz dem Fotografen Zutritt zu seinem Quartier. Steins Porträt des wichtigsten Chronisten der Emigration vor dem Spiegel ist eine Studie vollkommener Einsamkeit.
Wie Kantorowicz gelangte auch Fred Stein über Marseille in die Vereinigten Staaten. Dort konnte er an die Kontakte aus seiner Pariser Zeit anknüpfen. Nach Heinrich und Klaus ließ sich auch Thomas Mann von Stein porträtieren. Die Namen anderer, die vor seine Kamera traten, muss man inzwischen nachschlagen: Curt Riess, Paul Frölich, Georg Bernhard, Annette Kolb. Aber ebenso wichtig wie Steins Menschenbilder sind seine Straßenszenen aus New York. In ihnen zeigt sich, dass er seinen sozialistischen Biss nicht verloren hatte. Der schwarze Schuhputzer fällt ihm ebenso ins Auge wie der Mann, der auf der Stoßstange eines Autos schläft. Für die Beat Generation kam Stein aus einer anderen Welt, dabei hätte sie seinen Exilblick gut gebrauchen können.
Ende der fünfziger Jahre flog Stein erstmals wieder nach Deutschland. 1961 veröffentlichte er einen Band mit „deutschen portraits“. Später arbeitete er an einem „Lesebuch für die Kommenden“ mit Texten und Bildern des Exils. Steins Tod beendete das Projekt. In der Ausstellung im DHM bekommt man eine Ahnung davon, wie es ausgesehen hätte.
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