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#Das Natürliche ist das Chaos

„Das Natürliche ist das Chaos“

Als in der dritten Reihe eine alte Frau das Bewusstsein verliert, als sie nach vorn kippt und ihre Sitznachbarn sich besorgt über sie beugen, da hält er inne. Schaut mit stiller Traurigkeit auf das Geschehene – wartet einen Augenblick. Schweigt ein paar Sekunden, bevor er flüstert, was nicht im Text steht und aus seinem Mund doch klingt wie eine zentrale Zeile: „Ein Arzt, vielleicht?“

Das ist kein Befehl, das ist eine vorsichtige Frage. Denn ob ein Mediziner bei dem helfen kann, was hier geschieht, was sowohl im Zuschauerraum als auch auf der Bühne gerade leidvoll erfahren wird, kann niemand so recht sagen. Das Altern ist ein „einsamer Weg“, heißt es bei Arthur Schnitzler an anderer Stelle, und auch sein Theaterstück „Das weite Land“ handelt im Grunde von nichts anderem: Wie ein Leben langsam zur Neige geht, wie ein Körper seine Kraft verliert, ein Geist sich zerstreut.

Erschöpft steht er da

Michael Maertens als Glühbirnenfabrikant Friedrich Hofreiter ist eine Idealbesetzung. Nicht nur in dem Moment, als die Wirklichkeit an diesem Premierenabend plötzlich mitspielen will, beweist er, wie sehr die Rolle des in die Jahre gekommenen erotischen Abenteurers ihm in Fleisch und Blut übergegangen ist. Erschöpft steht er da, schwerfällig bewegt er sich durch den Raum, keuchend, verspannt, als zögen alle Glieder gleichzeitig an seinem Gewissen, als wäre er nie der jugendliche Geliebte gewesen, der bei jeder Gelegenheit geschickt zur Seite sprang. Eine harte Wehmut ist über ihn gekommen, nicht sentimental schaut er auf sein auslaufendes Leben, sondern mit jener Mischung aus Spott und Verärgerung, die den erfolgreichen Geschäftsmann auch im Falle einer Verhandlungsniederlage auszeichnet: „Es ist überhaupt dumm eingerichtet auf der Welt“, schimpft er, „mit vierzig Jahren sollte man jung werden, da hätte man erst etwas davon.“

Verzweiflung pur: Michael Maertens (links) und Itay Tiran.


Verzweiflung pur: Michael Maertens (links) und Itay Tiran.
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Bild: Matthias Horn/Ruhrtriennale 2022

Als Schnitzler 1902 mit dem „Weiten Land“ begann, plante er einen Monolog über die absurde Vorstellung, eine Frau habe ihrem Ehemann immer treu zu sein. Als das Stück dann aber 1911 an neun verschiedenen deutschsprachigen Theatern gleichzeitig uraufgeführt wurde, hatte sich das Hauptthema gewandelt: Es ging vor allem um das Schicksal des alternden Mannes, der sich aus Angst vor dem nahenden Ende durch unablässige Affären beweisen muss, dass ihn die Lebenskräfte noch nicht verlassen haben. Ein anstrengendes Unterfangen, bei dem Friedrich schließlich die Nerven verliert und den jungen Liebhaber seiner Ehefrau im Duell erschießt. Nicht aus erotischer Eifersucht, sondern aus eitlem Verlangen, sich nicht von der Jugend überflügeln zu lassen.

Andeutungen und Anspielungen

Ansonsten geschieht nicht viel. Das tragikomische Gesellschaftsstück besteht aus einer Folge von Parlando-Konversationen, einem Wechselspiel aus Andeutungen und Anspielungen. Die „Gesellschaft“ ist hier die spielsüchtige Erlebnisgesellschaft der Vorkriegszeit, die sich mit ihrer ständigen Suche nach Abenteuern zerstreuen will und stets den Wettkampf zelebriert: Man steigt auf gefährliche Bergklippen, spielt Tennis, tauscht verbotene Küsse auf einer Wiese. Sport und Sex folgen denselben Gesetzen, es geht um Sieg oder Niederlage, das Gefühl des Triumphs oder das der Deklassierung. Deshalb kann Friedrich auch nicht verstehen, warum seine Ehefrau Genia sich nicht an die Spielregeln hält, dass sie den Werbeversuchen eines jungen Pianisten widersteht, der sich umbringt, nur weil sie unbedingt treu bleiben will. Katharina Lorenz spielt diese von der libertären Moral ihres Mannes angewiderte Frau als Märtyrerin der Wahrheit, die mit aller Kraft die Fassung wahrt. Nur am Ende, wenn sie aus Rache dann doch den Ehebruch wagt und so den Tod eines zweiten jungen Mannes provoziert, fällt Lorenz stumm zu Boden, reißt sich im Schotter die Schienbeine auf und keucht ein Wort, das im Vokabular der Spielwütigen eigentlich nicht vorkommt: „Aus“.

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