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#Der alte Mann und das Mehr

Der alte Mann und das Mehr

Es gibt musikalische Bündnisse, an die man nicht einmal im Traum zu denken wagt: Was wäre etwa, wenn sich der Hohepriester des Spiritual Jazz mit dem aufregendsten Elektroniker Großbritanniens verbündete? Wenn es der weise, alte Mann des Tenorsaxophons mit der strukturellen Logik von Soundmaschinen aufnähme? Wenn eine Synthese entstünde, die sich als pulsierende Einheit aus Komposition und Improvisation allen stilistischen Zuschreibungen verweigerte?

Jetzt ist dieser unerhörte Fall eingetreten: Der achtzigjährige Pharoah Sanders, der sein Saxophon gern als „Megaphon der Seele“ nutzt, und der noch nicht einmal halb so alte Sam Shepherd alias Floating Points haben sich für das Projekt „Promises“ zusammengefunden. Wer ob dieser gewagten Verbindung Bedenken äußert, ob die „Versprechungen“ auch erfüllt werden können, wird schnell seiner Zweifel beraubt. Bereits nach eineinhalb Minuten ist klar: Kein zeitgenössischer Saxophonist kommt mit seinem Ton dem menschlichen Atem näher als Pharoah Sanders.

In der durchlaufenden sechsundvierzigminütigen Komposition umkreisen seine freien Improvisationen vor dem Hintergrund einer sphärischen Jungle-Music einen melodischen Glutkern, der die einschmeichelnden Phrasen immer wieder erhitzt. Oft scheinen die Töne ansatzlos aus dem Irgendwo heranzuwehen. Es ist die kontemplative Intensität von Sanders’ Tenorspiel, die inzwischen fast jeden seiner Klänge mit einer Aura des Kostbaren umhüllt. Bis tief in den menschlichen Körper hinein vibriert sein Ton. Mal nur ein erschöpfter Hauch, dann ein hymnisches Jauchzen – Sanders streift so behutsam durch die wabernden Klanglandschaften von Shepherd, dass sich seine Saxophonmotive immer wieder mit den Figuren eines Fender-Rhodes-Pianos, einer Celesta oder eines EMS-Synthis bis zur Unterschiedslosigkeit durchdringen.

Musik im Zustand ihrer permanenten Verflüssigung – eine einfache siebentönige Figur des Keyboards fungiert als Leitmotiv in den neun Sätzen dieses semi-minimalistischen Quasi-Konzertstücks. Im vierten Movement etwa summt und brummt Sanders onomatopoetische Silbenfolgen, die sich fernab klar artikulierter Kommunikation behaupten. Bald überführt er seine stimmlichen Äußerungen in sanfte Saxophonkürzel. Über die wüsten Sound-Eruptionen, wie er sie nach dem Tod seines Mentors John Coltrane auf Alben wie „Tauhid“, „Karma“ oder „Thembi“ kultivierte, ist Sanders längst hinaus. Spätestens seit „Harvest Time“ von 1976, als er die intimen Flüsterqualitäten seines Saxophons bis an den Rand des Verstummens auskostete, erforscht er das gesamte Klangspektrum des Saxophons mit seltener Souveränität. Kein Wunder, dass „Harvest Time“ als eine Art Blaupause für das neue Album galt, legte Shepherd doch bei einem sechsstündigen Auftritt im Berliner „Berghain“ gerade dieses zwanzigminütige Stück auf und sorgte damit für Irritationen auf dem Dancefloor.

Den Geist stummschalten, sich hypnotisieren lassen

Wo Sanders seiner intuitiven Lyrik freien Lauf lässt, operiert Shepherd, der erst kürzlich mit „Crush“ ein wegweisendes Manifest elektronischer Musik vorgelegt hat, mit mathematischer Präzision. Ambient Sounds, Intelligent Dance Music, Neo-Klassik – dem ausgebildeten Pianisten und promovierten Neurowissenschaftler geht es um einen Zustand musikalischer Schwerelosigkeit. Eine sehnende Solovioline übernimmt von Sanders ein flirrendes Minimal-Motiv, bevor die restlichen Streicher des London Symphony Orchestra ein vielschichtiges kosmisches Hintergrundrauschen erzeugen, das sich alsbald zu großflächigen gleißenden Akkorden auffächert. Wie sich Sanders auf leisen Sohlen ins siebte Movement einschleicht, bevor er dann in einem Crescendo ein einziges Mal die alte Überblaskunst aufblitzen lässt, ist atemberaubend.

Dieses Album – seit zehn Jahren die erste Studioproduktion von Sanders – ist kein Schnellschuss, denn mehr als fünf Jahre nahm seine Planung in Anspruch. Bei jedem neuen Hören entfaltet sich die Musik in eine andere Richtung, werden verborgene Details hörbar, entwickeln sich neue hypnotische Unterströmungen. Pharoah Sanders, der wohl größte Klang-Mystiker des Jazz, schöpft die Kraft seines Saxophonspiels noch immer aus tiefer panreligiöser Überzeugung. Erst diese innere Ruhe durch feste Verwurzelung in einer transzendentalen Wirklichkeit verleiht ihm die Energie seines Spiels. Das erfordert aber ein Stummschalten des Geistes, um Visionen und Ideen außerhalb unseres normalen Wissens über Musik zu erlauben. Auf „Promises“ haben sich zwei Visionäre ganz unterschiedlicher Herkunft gefunden, die ein absichtsloses Gewahrsein im Hier und Jetzt eint.

Pharoah Sanders, Floating Points & London Symphony Orchestra: „Promises“. Luaka Bop (Indigo)

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