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#Der (halbe) Nobelpreis 2021 – Hier wohnen Drachen

Der (halbe) Nobelpreis 2021 – Hier wohnen Drachen

Nein, heute geht es nicht darum, warum es frustrierend ist, dass euer Zimmer schon wieder so unordentlich ist. Heute geht es um den Nobelpreis für Physik, jedenfalls um eine Hälfte davon. Die ging ja an Giorgio Parisi

for the discovery of the interplay of disorder and fluctuations in physical systems from atomic to planetary scales.

[für die Entdeckung des Wechselspiels zwischen Unordnung und Fluktuationen in physikalischen Systemen von der atomaren zur planetaren Längenskala. Übersetzung von mir]

Was Parisi gemacht hat, ist ziemlich kompliziert und nicht in zwei Minuten zu erklären (Wie Feynman mal gesagt hat “Wenn man es in zwei Minuten erklären könnte, wäre es keinen Nobelpreis wert.”) Ich versuche trotzdem, euch einen Einblick zu geben, der etwas mehr in die Tiefe geht, aber schnallt euch besser an, es wird ein ziemlicher Ritt durch alle möglichen Aspekte der Physik.

Die entscheidenden Arbeiten von Parisi stammen aus der Zeit von 1979 bis etwa 1986 (Parisi hat auch später viel zum Thema Unordnung gemacht und auch Systeme wie harte Kugeln etc. erforscht, aber die theoretischen Grundlagen stammen aus dieser Zeit). [Zur anderen Hälfte des Nobelpreis schreibe ich lieber nichts – mit Klimaforschung kenne ich mich nicht so gut aus und da wird ja jede klitzekleinste Ungenauigkeit gleich als Argument für “Klimawandel gibt es doch gar nicht” missbraucht.]

In den 60er und 70er Jahren merkten die Physikerinnen (Männer mitgemeint) zunehmend, dass Theorien, mit denen sie bisher zum Beispiel die Wechselwirkung von Atomen in Metallen beschrieben hatten, ein Problem hatten: Sie waren meist sehr idealisiert, betrachteten beispielsweise reine Metalle aus nur einer Atomsorte etc. Es wurde aber zunehmend klar, dass es sehr viele Phänomene in der Physik gab, die man damit nicht beschreiben konnte, sondern bei denen die Systeme ungeordnet waren – zum Beispiel Legierungen, in denen die Atome irgendwie im Kristallgitter verteilt waren. (Klar, dass es die gab, wusste man auch vorher schon, aber zu dieser Zeit fing man an, ernsthaft nach Theorien zu ungeordneten Systemen zu suchen, zum Teil auch, weil man endlich Computer hatte, mit denen man solche Systeme auch berechnen konnte, dazu später noch mehr. Und alles, was ich hier zur Historie schreibe, schreibe ich ohne ausführliche Studien und nach meiner Erinnerung – ich habe 1987 angefangen, Physik zu studieren, und habe später in einem eng verwandten Gebiet gearbeitet. Sollte ich irgendwo etwas Falsches schreiben, meckert aber bitte trotzdem in den Kommentaren.)

Man versuchte also, ungeordnete Systeme – und damit die reale Welt – besser zu verstehen. Wie Physikerinnen halt so sind, wandten sie also ihre Theorien sofort auf reale Systeme an [Lachtränen wegwisch…] Nein, taten sie natürlich nicht. Wie Physikerinnen halt so sind, suchten sie nach einem idealisierten, einfachen System, an dem man Unordnung in der Physik besser verstehen kann. Physikerinnen lieben Spielzeugmodelle.

Spingläser

Spingläser sind genau so ein Spielzeugmodell. In einem relativ frühen Paper zum Thema (Edwards/Anderson, 1975) ist zwar noch von Legierungen die Rede (Mangan in Kupfer wird als Beispiel herangezogen), aber relativ schnell konzentrierte man sich auf die Theorie und darauf, die Modelle zu verstehen, ohne sich viel Gedanken über die Anwendungen zu machen.

Spingläser sind nicht Gläser, die sich irgendwie drehen (“die spinnen, die Gläser…”), sondern sind (idealisierte) Systeme aus kleinen magnetischen Momenten. In der Schule habt ihr vermutlich mal in Physik etwas von “Elementarmagneten” gehört und dass Eisen zum Beispiel ganz viele davon enthält und wenn man ein Stück Eisen magnetisiert, dann orientieren sich all diese kleinen Magnete parallel zueinander und das Eisen wird magnetisch und bleibt es dann auch. Das ist gar kein schlechtes Modell und eine gute Vorstellung, so etwa kann das aussehen:

Bild aus meinem Buch “Funktionswerkstoffe”

Die lilafarbenen Pfeile sind die Elementarmagneten, die blauen Ringe sollen symbolisieren, dass man sich die so vorstellen kann, dass Elektronen auf einer Kreisbahn laufen und diese magnetischen Momente dadurch erzeugen.

Damit unser Eisen magnetisiert werden kann und das dann auch bleibt, muss es irgendetwas geben, das die Elementarmagnete daran hindert, sich wieder anders zu orientieren, wenn sie einmal ausgerichtet sind. In einem einfachen Modell kann man sich vorstellen, dass es einfach energetisch günstig ist, wenn benachbarte Elementarmagnete gleich gerichtet sind, und energetisch ungünstig, wenn sie es nicht sind. Dann ist ein Zustand, in dem alles magnetisiert ist, energetisch günstig.

Die Wahrheit ist deutlich komplizierter, aber die genaue Physik von Magneten ist aber gar nicht so wichtig, hier geht es ja nur darum, ein Modell für ein ungeordnetes System zu basteln. Im Modell bezeichnen wir die Elementarmagnete wie in der Quantenphysik üblich als “Spins”, und diese Spins haben also die Tendenz, sich alle gleich auszurichten, weil das energetisch günstig ist. Wir nehmen außerdem an, dass unsere Spins überhaupt nur in eine von zwei Richtungen zeigen können, entweder nach oben oder nach unten.(Das kann man aus der Quantenmechanik motivieren, aber wie gesagt, da kommt es heute gar nicht drauf an.)

Wir platzieren jetzt alle unsere Spins auf einem regelmäßigen Gitter (in zwei oder drei Dimensionen) – fertig ist unser Spielzeugmodell eines Ferromagneten (Ein Ferromagnet ist ein Material, das sich so wie Eisen magnetisieren lässt und die Magnetisierung dann auch beibehält):

Bereits dieses System ist ziemlich kompliziert – wenn man annimmt, dass nur direkt benachbarte Spins miteinander wechselwirken, hat man das sogenannte Ising-Modell, mit dem man viele Phänomene der Thermodynamik erklären kann, beispielsweise Phasenübergänge (in dem Artikel nehme ich das Ising-Modell, um Legierungen zu beschreiben, ist aber mathematisch dasselbe Modell) oder auch negative Temperaturen.

Wir haben jetzt also ein System aus kleinen Magneten – den Spins. Den “Spin”-Teil des Wortes “Spinglas” haben wir damit erklärt.

Das “Glas” kommt ins Spiel, weil Gläser quasi das Paradebeispiel für ein ungeordnetes System sind. Glas bekommt man ja (ich vereinfache mal wieder…), wenn man ein Material so schnell abkühlt, dass die einzelnen Atome nicht genügen Zeit haben, um sich energetisch günstig in einem Kristallgitter anzuordnen; hier am Beispiel von Siliziumoxid gezeigt (aus dem normales Fensterglas besteht)

Silica.svg
Von Silica.jpg: JdrewittSilica.jpg, Gemeinfrei, Link

Ihr seht, dass zwar jedes Sauerstoffatom zwei Bindungen hat und jedes Si-Atom drei (ist eine zweidimensionale Darstellung; in drei Dimensionen hat jedes Si-Atom vier Bindungen), dass aber die Struktur trotzdem nicht regelmäßig und kristallin ist; die Bindungswinkel sind alle nicht perfekt wie in einem Kristall, sondern etwas schief.

Das System ist also nicht in einem energetisch optimalen Zustand, aber um eine kristalline Anordnung zu bekommen, müssten sich viele Atome  durch die Gegend bewegen, Bindungen müssten aufgebrochen und dann neu geknüpft werden. Das würde viel Energie kosten, und bei niedriger Temperatur steht diese Energie nicht zur Verfügung. (Bei hoher Temperatur sieht es anders aus, da schmilzt das Glas dann und kann durch langsames Abkühlen in einen energetisch günstigeren Zustand gelangen.). Das Glas ist in einem sogenannten “metastabilen” Zustand und in dem ist es quasi gefangen.

Um unser magnetisches System in ähnlicher Weise zu eine ungeordneten System zu machen, machen wir einfach folgendes: Wir nehmen nicht mehr an, dass alle Spins in unserem Magneten gleich ausgerichtet sein wollen, weil das energetisch günstig ist, sondern machen die Wechselwirkung zufällig: Für einige Spins ist es zum Beispiel energetisch günstig, sich parallel auszurichten, für andere ist es günstig, sich antiparallel auszurichten, also einer nach oben, einer nach unten.

Warum das zu einem komplizierten Verhalten führen kann, können wir schon mit drei Spins sehen. Nehmen wir an, wir haben drei Spins in einem Dreieck angeordnet und jedes von ihnen möchte antiparallel zu den beiden anderen sein:

Das erste lassen wir nach oben zeigen, das zweite nach unten, und das dritte dann …? Egal wie man es spint und wendet, man wird nie alle drei Spins so anordnen, dass jeder von ihnen zufrieden ist.Die drei Elektronen sind “frustriert” – man kann es nicht allen recht machen und einen perfekten Zustand einstellen, in dem alle Wechselwirkungen am günstigsten sind so wie vorher bei unserem einfachen Magneten, wo alle Spins gleichgerichtet sein wollten.

Auf einem Gitter sieht das dann etwa so aus:

 

Die Pfeile symbolisieren die Spins, die Plus- und Minuszeichen geben an, ob benachbarte Spins gleich oder lieber entgegengesetzt gerichtet sein wollen. Links oben haben wir ein Beispiel für Frustration: Wenn ihr die vier Spins links oben alle gleich ausrichtet, dann sind die beiden unteren von ihnen nicht zufrieden; dreht ihr einen um, ist eine andere Wechselwirkung nicht optimal. Ihr könnt ja mal selbst überlegen, wie die 24 Spins ausgerichtet sein müssen, um einen energetisch möglichst günstigen Zustand zu bekommen, dann merkt ihr, dass das gar nicht so einfach ist. [Es gab mal eine schöne Android-App namens Spin-The-Spin, wo man mit so einem System rumspielen konnte, aber anscheinend gibt es die nicht mehr; wirklich schade.]

Wir haben jetzt also ein Beispiel für ein System mit Unordnung. Es ist insofern etwas anders als ein normales Glas, als dass Glas ja einen eindeutigen energetisch günstigen Zustand hat (wenn es eben kein Glas ist, sondern ein Kristall), aber ansonsten ist es in gewisser Weise ähnlich – wie beim Glas, wo die Bindungen nie perfekt ausgerichtet sind, muss auch in unserem Spinglas ein Kompromiss gefunden werden; einige Wechselwirkungen sind zwangsläufig energetisch ungünstig.

Die Spingläser, die Parisi angeguckt hat, waren übrigens noch etwas komplizierter, weil dort Wechselwirkungen nicht nur auf nächste Nachbarn beschränkte waren – stattdessen konnten alle Spins miteinander wechselwirken, auch über größere Entfernungen hinweg (wobei die Stärke der Wechselwirkung dann aber abnahm), und jede einzelne Wechselwirkung war nicht einfach plus oder minus, sondern hatte eine Stärke. [Der Grund dafür ist, wenn ich es richtig verstehe, dass man dann für die Stärke der Wechselwirkung eine Gaußverteilung nehmen kann, die hat den Vorteil, dass beim Bilden von Integralen lauter Integrale über Gaußfunktionen vorkommen, was so ziemlich die einzigen Integrale sind, die Physikerinnen lösen können… 😉  ]

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