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#Mit Abgründen war zu rechnen

Mit Abgründen war zu rechnen

Sie gehörte fast ein halbes Jahrhundert lang zum Ensemble des Wiener Burgtheaters und noch weit länger zu jenen Schauspielerinnen, die man sich merkte, wenn man sie einmal gesehen hatte. Früh schon verstand es Gertraud Jesserer, auch kleineren Rollen großes Gewicht zu verleihen. Als Otto Schenk Fritz Kortner, den „größten Shylock unserer Theaterepoche“, wie Hilde Spiel damals in der F.A.Z. schrieb, 1968 dazu brachte, den Kaufmann von Venedig auch in einem Fernsehfilm zu verkörpern, war Gertraud Jesserer die Jessica, Shylocks Tochter. So, wie sie 1959 bei ihrem Debüt in dem Film „Die Halbzarte“ an der Seite Romy Schneiders die Tochter Josef Meinrads gewesen war. Fünf Jahre später stand sie gemeinsam mit Meinrad in einer ihrer vielen Nestroy-Inszenierungen auf der Bühne: als Lehrjunge Christopherl in „Einen Jux will er sich machen“.

Nestroy, Schnitzler, Hofmannsthal, Horváth – die großen Autoren des österreichischen Theaters gehörten wie selbstverständlich zu ihrem breit gefächerten Repertoire. In der legendären Aufführung von Thomas Bernhards „Heldenplatz“, die Wien bei der Uraufführung im Jahr 1988 deutlich stärker erschütterte, als es kürzlich der Abgang eines in schauspielerischer Hinsicht nicht völlig talentlosen Bundeskanzlers vermochte, spielte Marianne Hoppe die Professorenwitwe Hedwig Schuster. Aber als das Stück 2010 erstmals nach Bernhards Tod wieder in Österreich aufgeführt wurde, fiel die Rolle der Patriarchin, die noch immer den Jubel der Massen bei der Verkündung von Österreichs „Anschluss“ an das „Dritte Reich“ im Ohr hatte, wie selbstverständlich Gertraud Jesserer zu. Da war sie bereits zu einer lebenden Legende geworden.

Kainz-Medaille 1974, Kammerschauspielerin seit 1986, Johann-Nestroy-Ring 1998, Goldenes Ehrenzeichen 2003 – an Ehrungen fehlte es nicht. Besonders sichtbar wurde dies spätestens 2006, als das Burgtheater nach Jahrzehnten eine alte Tradition wiederbelebte und für die Wandelgänge des Hauses zwölf Schauspielerinnen und Schauspieler porträtieren ließ. Neben Kirsten Dene und Andrea Clausen, Gert Voss, Klaus Maria Brandauer, Martin Schwab und anderen gehörte natürlich auch Gertraud Jesserer dazu.

Sie konnte komisch sein, derb, zart, hinterhältig, gnadenlos und berechnend. Vielen ihrer Frauenfiguren, so unterschiedlich sie auch waren, verlieh sie eine Gemeinsamkeit: Man musste sie nicht immer mögen, aber man neigte nie dazu, sie unterschätzen. Mit Abgründen war fest zu rechnen. In Luc Bondys gefeierter Wiener Inszenierung des „Tartuffe“ spielte sie 2013 Madame Pernelle, die bigotte Mutter des Orgon: ein „eiskaltes Moralinmonster“, wie es damals in der F.A.Z. hieß.

Gertraud Jesserer hatte Erfolg. Früh im Kino, etwa in „Das Erbe von Björndal“, jahrzehntelang auf der Bühne, wo sie 1960 mit „Liliom“ am Theater in der Josefstadt debütierte, oft im Fernsehen, wo sie etwa in „Monaco Franze“, „Derrick“, „Traumschiff“ oder „Kommissar Rex“ zu sehen war. Im Privatleben wurde Gertraud Jesserer immer wieder von Schicksalsschlägen heimgesucht: Ihr erster Ehemann, der Schauspieler Peter Vogel, nahm sich 1978 das Leben, ihr Sohn Nikolas starb 1991 bei einem Einsatz als Kriegsberichterstatter. Jetzt ist Gertraud Jesserer bei einem Brand in ihrer Wiener Wohnung auf tragische Weise ums Leben gekommen. Sie wurde 77 Jahre alt.

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