Nachrichten

#Der subjektive Blick als Augenöffner

Der subjektive Blick als Augenöffner

Die subjektive Seite der Geschichte ist kein Privileg des Kinos. Romane und Ge­mäl­de entfalten den Blick des Individuums auf das Drama der Welt genauer und detaillierter als der bilderwerfende Ap­pa­rat. Aber im Film wird das, was Wörter und gepinselte Farben nur mehr oder we­ni­ger glaubhaft behaupten, evident und deshalb unausweichlich. Die Welt sieht wirklich so aus, wie die Heldin oder der Held sie sieht. Die Subjektivität bekommt den Schein des Objektiven. Die Täuschung nimmt den Glanz der Wahrheit an.

Der Film „Un año, una noche“ des katalanischen Regisseurs Isaki Lacuesta schildert den Anschlag auf das Pariser Konzerthaus Bataclan im November 2015 durch die Augen eines Paares, das die Blutnacht überlebt hat. Céline und Ramón konnten sich in der Garderobe verstecken, während islamistische Attentäter neunzig Menschen erschossen. Aber die beiden werden ihres Davongekommenseins nicht froh. Ramón leidet unter Panikattacken, und Céline, die das Geschehene zu vergessen versucht, verliert ihre Freude am Da­sein, an ihrem Job, am Trinken und Feiern, am Sex, sogar an Ramón. Immer wieder tauchen die Bilder vom Bataclan vor dem inneren Auge der beiden auf, die Flucht aus dem Saal, die panische Angst im Versteck, das endlose Warten auf die Befreiung. Der Mo­ment der Krise kommt, als Céline in der Einrichtung für sozial auffällige Jugendliche, in der sie arbeitet, mit einem jungen Araber in Streit gerät. Er provoziert sie, sie schlägt ihn, dann bricht sie zusammen. Es stellt sich heraus, dass sie Ramón an je­nem Abend am Boden liegen gesehen, dass sie ihn für tot gehalten hat. Deshalb kann sie an das Leben, das sie zuvor mit ihm geführt hat, nicht mehr anknüpfen. Erst nach einer Trennung findet sie wieder zu ihm zurück.

Die Geschichte bleibt im Eindimensionalen stecken

Das Problem des Films liegt darin, dass er für diese innere Erschütterung, diesen zeitverzögerten Einsturz des Ichs keine visuelle Entsprechung findet. Zwar kehrt er viele Male in unscharf nachinszenierten Einstellungen an den Ort des Gemetzels zurück, aber dessen Bilder verbinden sich nicht mit dem Alltag, in den die Überlebenden der Katastrophe einzutauchen versuchen. Einmal sieht man Ra­món nach dem Anschlag in ein Museum ge­hen. Doch die Kunst spricht nicht zu ihm, die Statuen lassen ihn kalt, stattdessen stopft er sich im Café den Magen voll. In einem Film, der sich seiner ästhetischen Mittel stärker bewusst gewesen wäre, hätte das eine große Szene werden können. Bei Isaki Lacuesta dagegen bleibt die Kamera immer an der Oberfläche des Geschehens, sie schaut den Figuren beim Reden, Trinken, Streiten, Schluchzen und Sichversöhnen zu, ohne wirklich ihre Perspektive einzunehmen. Auch die großartige Noémie Merlant (sie spielte die Malerin in „Porträt einer jungen Frau in Flammen“) und ihr Partner Na­huel Biscayart können nichts daran än­dern, dass „Un año, una noche“ in einer Eindimensionalität steckenbleibt, die gerade diesem Thema am wenigsten gerecht wird.

Maggie Perens „Der Passfälscher“, der in Berlin in der Reihe „Berlinale Special Ga­la“ läuft, erzählt die Geschichte des Holocaustüberlebenden Cioma Schönhaus. Der zwanzigjährige Schönhaus blieb allein in Berlin zurück, als seine Eltern im Sommer 1942 ins Vernichtungslager Majdanek de­por­tiert wurden. Zunächst arbeitete er in einem Rüstungsbetrieb, danach fälschte er in einer eigenen Werkstatt Ausweise, die er über ein Netzwerk aus Widerständlern und Mitgliedern der Bekennenden Kirche unter die Leute brachte. 1943 gelang Schönhaus, der bereits auf der Fahndungsliste der Ge­stapo stand, mit einem gefälschten Wehrpass die Flucht in die Schweiz.

Das Leben im Nazi-Berlin ist beinahe normal

Maggie Perens Film hat ein klares Konzept. Es besteht darin, dass er das Drama konsequent aus dem Blickwinkel seines Protagonisten entwickelt. Das bedeutet, dass es in „Der Passfälscher“ keine Fahnenmeere, keine rollenden Panzer, kein SS-Gebrüll und (mit einer Ausnahme) keine alliierten Bombardements gibt, sondern Menschen in Wohnungen und Bussen, Tanzabende, Nachbarinnen mit schwankenden Loyalitäten, Polizeibeamte ohne Diensteifer. Das Leben ist beinahe normal, und Cioma (Louis Hofmann) klammert sich an diese Normalität. Die Lebensmittelmarken, die er für seine Dokumentfälschungen bekommt, si­chern ihm ein be­quemes Auskommen, und als er Gerda (Lu­na Wedler) kennenlernt, blitzt für ei­nen Augenblick so etwas wie der Schnappschuss einer Zu­kunft ohne Hakenkreuze auf. Aber die beiden kommen nicht zusammen, weil Gerda ebenfalls Jü­din und auf Gönner in Uniform angewiesen ist. Die Liebe, die Freundschaft, das gute Leben, sie alle werden von der Furie des Verschwindens ereilt.

„Der Passfälscher“ sieht nicht wie das gewohnte deutsche Kriegspanorama aus der Nazizeit aus. Ebendeshalb folgt man der Geschichte mit überraschter Neugier. Mag sein, dass darin auch ein Stück Selbsttäuschung liegt, denn was Cioma Schönhaus damals wirklich empfunden hat, werden wir nie nacherleben können. Aber für den Moment genügt es, dass wir die Welt mit seinen Augen sehen.

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie an Foren interessiert sind, können Sie Forum.BuradaBiliyorum.Com besuchen.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!