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#Der Zwiespalt vor der Tiefkühltruhe

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Der Zwiespalt vor der Tiefkühltruhe

„Eigentlich bin ich Vegetarier“, sage ich zu meinem Kumpel. Dehydriert und hungrig stehen wir mittags vor einer Tiefkühltruhe im Supermarkt. Unser Blick wandert verträumt zu einer Tüte mit Pelmeni, Teigtaschen mit Fleischfüllung. In einem Comic-Streifen würde uns dieser Anblick den Mund wässrig machen. In der Realität bleibt der Mund wegen meines gestrigen Rauschs allerdings trocken. Obwohl ich versuche, kein Fleisch zu essen – beim Anblick der Tüten rausche ich eine kindlich frohe Erinnerungsrutsche hinab. Diese Geborgenheit, sie spiegelt sich sinnbildlich in den teigummantelten Fleischkügelchen wider. Pelmeni, das ist die Küche meiner Mutter! 

Mein Freund und ich, wir sind beide postsowjetische Migranten. Und fragen uns, ob es denn in Ordnung ist, als Vegetarier Pelmeni zu essen. „Was eine dumme Frage“, mag sich manch einer da möglicherweise denken. Fleisch ist Fleisch. Und als Vegetarier isst man kein Fleisch – niemals, nie und fertig. Seit vier Jahren lebe ich fleischfrei. Von meinen Verwandten höre ich zu Weihnachten, Ostern und auf Geburtstagen immer den selben Satz: „Bist Du noch Vegetarier?“ Sie verziehen dabei ihr Gesicht, als ginge es um den Kampf mit einer schweren Krankheit. Kein Fleisch zu essen bedeutet für die postsowjetische Diaspora Mangelernährung, oder gar schlimmer: Respektlosigkeit und Verleugnung der eigenen Kultur. Als Zeichen der Versöhnung esse ich ein Stück Fleisch mit – und trinke fünf Gläser Wodka. Bin ich doch kein Vegetarier? 

Auf Fleisch zu verzichten ist elitär

Auch bei meinen Eltern stoße ich mit meinem „Hobby“ Vegetarismus auf viel Unverständnis. „Daniel, wir sind damals vor leeren Regalen aus Kasachstan nach Deutschland geflohen und jetzt isst Du nichts“, schimpft mein Vater. Die Bürgerlichen in ihren Altbauwohnungen mit Fischgrätenparkett und minimalistischer Einrichtung wählen zwischen achtzehn Sorten Hafermilch. Wenn jemand die Falsche trinkt, etwa weil Verbindungen zwischen Führungsetage des Hafermilch-Unternehmens und ominösen Politikern bestehen, darf man sich auf etwas gefasst machen. Die Menschen in der Sowjetunion durchlebten indes die ein oder andere Hungersnot. Seit den frühen 1930er Jahren deportierte der sowjetische Apparat hunderttausende Deutsche. Viele überlebten das nicht. 1936 wurde auch der Bauernhof meiner Vorfahren in der Nähe von Odessa enteignet. Im Winter wurden sie in die kasachische Steppe verbannt. Mein Opa, damals noch ein Kleinkind, überlebte. Auf Fleisch zu verzichten ist aus dieser Perspektive elitär. Pelmeni hingegen ist die Nahrung des Proletariats.

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