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#Die Partitur löst die Inventur ab

Die Partitur löst die Inventur ab

Wolfgang Hegewald hat das Jahr 2020 porträtiert und das resultierende Buch „Tagessätze – Roman eines Jahres“ genannt. Der Ausdruck „Sätze“ ist doppeldeutig, verweist auf musikalische und sprachliche Aspekte. Die Einträge zu den einzelnen Tagen nennt Hegewald „Tagessonaten“, auch hier spielt er auf musikalische Prinzipien an. Der Untertitel „Roman eines Jahres“ verdeutlicht, dass es dem Autor um ästhetische Kategorien, um die Form der Erzählung geht. Aus dem Jahr 2020 entwickelt er eine literarische Wirklichkeit, einen Roman. Hegewald sagt dazu: „Ich schreibe kein Tagebuch. Ich komponiere Aufzeichnungen. Es lebe die Differenz!“ Der Künstler ersetzt den Buchhalter, das gestaltete Material tritt an die Stelle des Rohstoffs, die Partitur löst die Inventur ab.

Prägend für dieses Jahr sind der Beginn der Corona-Krise und die Wahl des amerikanischen Präsidenten. Hegewald verbindet kollektive und persön­liche Ereignisse. Seine gescheiterte Wahl zum Präsidenten der Freien Akademie in Hamburg taucht als Thema häufiger auf, ebenso die Frage nach einem geeigneten Friedhof fürs eigene Grab. Die Aktualität des Jahres ist teilweise vordergründig, der Autor nutzt die Journalform, um sich zu er­innern, zum Beispiel an seine Heimatstadt Dresden, eine frühere Begegnung mit Daniel Kehlmann oder seinen Auftritt beim Bachmann-Preis 1984. Der Tod von Guntram Vesper verleitet ihn dazu, nach dessen Briefen zu suchen.

Wolfgang Hegewald: „Tagessätze“. Roman eines Jahres. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 285 S., geb., 24,– €.


Wolfgang Hegewald: „Tagessätze“. Roman eines Jahres. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 285 S., geb., 24,– €.
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Bild: Wallstein Verlag

Hegewalds Methode ist der Kommentar, der Haupttext sind die Ereignisse des Jahres 2020. In einer „Nachbemerkung“ schreibt er: „Eine Sonate hat drei Sätze. Aus drei Sätzen einer Tageszeitung entsteht eine Tagessonate; Zufalls- und Gelegenheitskompositionen. In die Jahresmitschrift gestreut.“ Damit ähnelt sein Projekt Uwe Johnsons „Jahrestagen“, in dem die Nachrichten der „New York Times“ eine wichtige Rolle spielen. In den einzelnen Tagessonaten bleibt indes offen, was der Autor der Zeitung entnommen hat, was eigene Beobachtung ist, was zitiert oder paraphrasiert. Hegelwalds Sprache ist poe­tisch, er übersetzt Nachrichten in Metaphern und Vergleiche, verkürzt Aussagen, spitzt sie zu oder konfrontiert sie mit unerwarteten Über­legungen. Pointen tauchen leitmotivisch wieder auf wie zum Beispiel eine Situation mit Elke Heidenreich, die in einer „Talkshow schmollend ihre Unlust kundtat, für eine Lesung vor vierzig Hansel ihr Haus verlassen zu sollen“. Hegewald geht es hier um Aufmerksamkeit, um die Frage der öffentlichen Wahrnehmung von Büchern.

Der Stoff ist nicht inflationär, sondern ausgewählt

Lesenswert ist das Buch durch die Ironie, mit der Hegewald den Ereignissen begegnet. Zum 3. März 2020 schreibt er: „Was für ein unbeschwertes Jahr für Leute mit einem Waschzwang.“ Die Serie „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ nennt er „die Fortsetzung der Currywurst mit anderen Mitteln“. Er schildert, wie die Exekution des zum Tode verurteilten John Hummel durch das Coronavirus verschoben werden muss, weil es sich um eine Zusammenkunft von mehr als zehn Menschen handelt. Er schließt mit den Worten: „Wir alle sind befristet.“

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Parallelen ergeben sich zu den Aufzeichnungen Ernst Jüngers, zum fünften Band von „Siebzig verweht“ etwa, in dem Überlegungen zu Stalingrad neben Gedanken zur künstlichen Befruchtung stehen. Ähnlich arbeitet Hegewald, wenn er jede Tagessonate mit drei Sätzen beginnen lässt, die wie Akkorde wirken. Mal sind sie lose verknüpft, mal ist der Kontext offensichtlich. Ein Aufenthalt in Rom führt Hegewald dazu, sich an eine Be­gegnung 1987 mit Jünger in der Villa Massimo zu erinnern, als der Autor der „Tagessätze“ dort Stipendiat war; er sprach Jünger auf dessen Zusammenkunft mit Jorge Luis Borges an. Jünger schickte ihm daraufhin ein signiertes Foto, auf dem er mit dem argentinischen Autor zu sehen war.

Sein In­strument ist die Lakonik

Hegewald wendet also eine Methode an, die mit Henry Millers Worten als „your anecdotal life“ bezeichnet werden kann. Er gibt Einblicke in sein Leben, beschreibt Ereignisse, die für ihn als Person von Bedeutung sind. Der Stoff ist nicht inflationär, sondern ausgewählt, komponiert. Hegewald ist kein Protokollant, nicht alle Tage des Jahres werden von ihm behandelt. Die Gravitation des Buches geht vom Subjekt aus, von der Erzählinstanz, die eine große Nähe zum Autor hat. Inwiefern Hegewald sich stilisiert, inwiefern er ein Bild von sich entwirft, das abweicht von seiner Person, ist schwer zu entscheiden. Wenn er den Ausdruck „Roman“ verwendet, hat er die Möglichkeit, seine Erfahrungen in den Bereich der Phantasie zu erweitern. Sein altes Alter Ego Nathan Niedlich taucht mehrmals auf im Buch. Entscheidend bei seinem Projekt ist aber die literarische Illusion. Der Leser bewegt sich in einer Welt aus Sprache, wird hineingezogen in einen künstlerischen Zusammenhang.

Hegewalds Stärke ist der Aphorismus. „Wollte jemals irgendwer den Begriff Narzissmus vertonen, die Selfie-Drohne wäre der aktuell wohl heißeste Klanganwärter“, schreibt er in der Tagessonate vom 5. Januar. Der Autor will nicht argumentieren, logisch überzeugen, sein In­strument ist die Lakonik, der Versuch, den Kern einer Behauptung mit wenigen Worten darzustellen.

Wolfgang Hegewald: „Tagessätze“. Roman eines Jahres. Wallstein Verlag, Göttingen 2021. 285 S., geb., 24 Euro.

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