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#Die kalten Blicke von Tarnów

Die kalten Blicke von Tarnów

Im März 1942 reisen die jungen Anthropologinnen Elfriede Fliethmann und Dora Maria Kahlich in die südpolnische Kleinstadt Tarnów. Fliethmann kommt aus Krakau, wo sie am Institut für Deutsche Ostarbeit mit der Erfassung von Rassemerkmalen bei Juden und Polen beschäftigt ist. Kahlich hat sich in Wien als Zuarbeiterin der Reichsstelle für Sippenforschung und Gutachterin in Abstammungsfragen einen Namen gemacht. In Tarnów, wo seit der deutschen Besetzung Polens dreißigtausend Juden, darunter viele Flüchtlinge aus Krakau, auf engem Raum leben müssen, wollen die beiden Frauen eine „rassenkundliche“ Studie an jüdischen Familien durchführen.

Andreas  Kilb

Das Projekt ist staatlich gefördert; Fliethmann und Kahlich bekommen Messgeräte und einen Fotografen zugeteilt; der Sicherheitsdienst (SD) in Tarnów wählt 565 Männer, Frauen und Kinder aus 106 Familien zur Untersuchung aus. Die Rasseforscherinnen nehmen die Lebensdaten der Untersuchten auf, dann werden die Menschen fotografiert, frontal, im Profil, in Dreiviertelansicht und mit gerecktem Kopf. Zuletzt müssen sie sich entkleiden, und Rudolf Dodenhoff, der Fotograf, schießt Nacktaufnahmen. Nach zwölf Tagen ist die Feldforschung beendet.

Deportiert oder im Wald erschossen

Sechs Monate später schreibt Elfriede Fliethmann an Dora Maria Kahlich einen Brief, in dem sie den zunehmenden Mangel an jüdischen Probanden im deutschen Generalgouvernement beklagt. Von „den Tarnówern“ seien „noch 8000 da“, aber „von unseren fast niemand mehr“, wie ihr ein SD-Führer bestätigt habe. Das Untersuchungsmaterial vom Frühjahr habe deshalb „schon Seltenheitswert“. In der Zwischenzeit, im Juni 1942, hatten die deutschen Besatzer etwa achttausend Juden aus Tarnów ins Vernichtungslager Belzec deportiert, weitere Tausende auf dem jüdischen Friedhof und in einem Wald erschossen und den Rest in ein zuvor abgestecktes Getto gepfercht. Nach zwei weiteren Mordaktionen wurde das Getto Ende 1943 liquidiert. Als die Rote Armee Tarnów im Januar 1945 befreite, lebten dort weniger als 250 Juden.

Die Schachtel mit der Aufschrift „Tarnówer 1942” mit durchnummerierten Fotos. Sie zeigen jeweils vier verschiedene Porträts von 565 Personen in gleichen und damit vergleichbaren Perspektiven.


Die Schachtel mit der Aufschrift „Tarnówer 1942” mit durchnummerierten Fotos. Sie zeigen jeweils vier verschiedene Porträts von 565 Personen in gleichen und damit vergleichbaren Perspektiven.
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Bild: Wolfgang Reimann

Die Tarnówer Studie ist die eine historische Spur, die in die Ausstellung „Der kalte Blick“ in der Berliner Topographie des Terrors führt. Die andere ist die Geschichte ihrer Opfer. Im Herbst 1999 sprach die Wiener Anthropologin Margit Berner den Historiker Götz Aly nach einem Vortrag in ihrer Heimatstadt an. Aly hatte für sein 1991 erschienenes Buch „Vordenker der Vernichtung“ über die Wissenschaft und den Holocaust den Briefwechsel von Kahlich und Fliethmann aus dem Archiv der Jagiellonen-Universität Krakau ausgewertet. Margit Berner wiederum hatte die dazugehörigen Fotos im Archiv des Naturhistorischen Museums Wien in einem Karton mit der Aufschrift „TJ 1942“ gefunden. Mit Alys Hilfe entdeckte sie den Namensschlüssel zu den numerierten Fotografien im Smithsonian Museum in Washington, wohin sie nach der Beschlagnahmung der Akten des Ostarbeit-Instituts am Ende des Krieges gelangt waren. In jahrelanger Suche machte Berner die letzten der 26 Überlebenden aus den untersuchten Familien ausfindig, führte Gespräche mit ihnen, entlieh Familienfotos und Zeitzeugen-Interviews der Survivors of the Shoah Visual History Foundation.

Ein geschützter Raum für die Bilder

Die von Berner und Aly zusammen mit Ulrich Baumann von der Stiftung Holocaust-Mahnmal und Stephanie Bohra von der Stiftung Topographie des Terrors kuratierte Ausstellung ist dennoch mehr als die Summe zweier ganz unterschiedlicher Erkenntnispfade. Sie bringt die Täterinnen und die Opfer, die Rassenforschung und die Massenvernichtung auf eine Weise zusammen, die man nicht anders als beispielhaft nennen kann. Im Zentrum der Präsentation stehen die Porträtfotos – die Nacktaufnahmen wurden offenbar bei Kriegsende vernichtet – der untersuchten Familien. Die Ausstellungsarchitekten haben für sie einen schrankartigen geschützten Raum gebaut, in den man nur von der Seite hineinschauen kann, so dass die Bilder gleichsam unter sich bleiben, in einem gemeinsamen Schicksal vereint.

Dora Maria Kahlich (stehend) bei der anthropologischen Arbeit. 1933/34 untersuchte sie donauschwäbische Familien im rumänischen Marienfeld


Dora Maria Kahlich (stehend) bei der anthropologischen Arbeit. 1933/34 untersuchte sie donauschwäbische Familien im rumänischen Marienfeld
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Bild: Naturhistorisches Museum Wien

Um diese Installation herum entfalten Aly und Berner das ganze Panorama der Schoa, vom jüdischen Leben im Tarnów der Vorkriegszeit über die einzelnen Stufen der Entrechtung und Ermordung bis zu den Erinnerungen der Überlebenden in Amerika und Israel. Aber auch die Ursprünge der Rassenanthropologie und ihre perverse Zuspitzung in Forschungsarbeiten wie jener von Fliethmann und Kahlich werden dokumentiert. Dabei sind die Vitrinen mit den Werkzeugen – Messstangen, Zirkel, Augenfarbtafeln – und den Notizen der beiden Rassekundlerinnen so aufgestellt, dass sie über die Fotos ihrer Opfer hinweg mit den Fotos der Deportationen korrespondieren. SD, Gestapo und die berüchtigten Polizeibataillone, begreift man so, haben nur auf mörderische Weise fortgesetzt, was ihre wissenschaftlichen Vordenker begonnen hatten.

Ein brieflicher Dank für die „netten Tage“

Wer Spielbergs „Schindlers Liste“ und die Dokumentationen von Claude Lanzmann kennt, könnte leicht meinen, er habe, was die Vernichtung der europäischen Juden betrifft, schon alles gesehen und gehört. In der Topographie des Terrors erfährt man jetzt abermals, dass das nicht stimmt. Es gibt immer noch ein unfassbares Stück Wirklichkeit, das ergänzt, ein Bild, das neu beschriftet, einen Satz, der nachgetragen werden kann – und sei es nur ein brieflicher Gruß von Dora Maria Kahlich, die sich im Juli 1942 bei Elfriede Fliethmann für „die ganzen netten Tarnówer Tage“ bedankt, während ihre Studienobjekte schon auf dem Weg in den Tod sind.

Beide Frauen überlebten den Krieg: Kahlich nahm ihre Gutachtertätigkeit in Wien wieder auf, Fliethmann ging als Sozialpädagogin nach West-Berlin. Rudolf Dodenhoff, ihr Helfer, wurde ein gefeierter Landschafts- und Architekturfotograf in Worpswede. Sein Andenken war bis vor kurzem makellos. Diese Ausstellung belichtet es neu.

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