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#Die Sphinx trägt jetzt Rosa

Die Sphinx trägt jetzt Rosa

Erst das Satyrspiel, dann die Tragödie – das vergangene Berliner Opern-Wochenende vollzog sich, zwar in umgekehrter Reihenfolge, quasi im altgriechischen Modus. Zwei Musiktheater stellten sich, nach Ulrich Rasches Inszenierung am Deutschen Theater (F.A.Z. vom 30. August) nun musikalischen Verarbeitungen von Sophokles’ Ödipus-Stoff; immer noch gehemmt durch allerlei nicht durchweg sinnträchtige Corona-Sanktionen, aber mit grenzsprengender Lust an neuer, sich in jedem Sinne nahe kommender Kommunikation.

Voran ging, in der Deutschen Oper, „Greek“, die durch Steven Berkoffs Sprechtheater-Stück vermittelte Ödipus-Adaption Mark-Anthony Turnages von 1988: eine krachend sarkastische, im Ton oft rotzig-vulgäre, in der Sache sehr ernsthafte Persiflage, die den antiken Stoff ins damalige England der Thatcher-Ära umpflanzt und dabei musikalisch mit dem Drive ihrer Jazz- und Pop-Anklänge, prickelnder Instrumentation und einer enormen Vielfalt vokaler Äußerungsformen vom sanft schnulzigen Musical-Arioso bis zu Rap-ähnlichen Passagen bestes Ohrenfutter bietet. Unter der pointiert-aufmerksamen Leitung von Yi-Chen Lin assistierten neunzehn Orchestermusiker energisch und flexibel der Selbstfindungsgeschichte eines jungen Mannes aus dem Lower-Class-Milieu.

Regisseurin Pınar Karabulut entwickelte sie bei ihrer ersten Musiktheater-Arbeit mit einer Art trocken-verzweifeltem Optimismus, überhöht mit wieherndem Comic-Effekt: Die Totschlagszene zwischen dem Ödipus-Wiedergänger Eddy und seinem zum Kaffeehausbesitzer mutierten Vater etwa wird zum machohaft tänzelnden Sprechblasen-Beschimpfungsduell mit finalem Herzinfarkt, und die Sphinx erscheint als mit rosa Luftschlangen umwurstete und von ihrem eigenen radikal-feministischen Männerhass angeödete Doppelgestalt. Schreiend acrylbunte Bodys und Perücken (Teresa Vergho), ein liebevoll-freundlicher Inzest mit blühendem Geschäftserfolg als Nebeneffekt, allerlei frappierende Aktualitäten des Librettos nicht nur da, wo von Ansteckungsangst und „neuen Seuchenschutzgesetzen“ die Rede ist: Der Abend hatte in seiner parodistisch überdrehten Gesellschaftsskepsis hohen Unterhaltungswert. Als Finale winkt, nach der nur als böses Spiel angetäuschten Selbstblendung des Helden, eine neuerliche paradiesische Wiederauferstehung im Mutterschoß.

Leigh Melrose (Oedipe) und Karolina Gumos (Jocaste) in „Oedipe“ an der Komischen Oper


Leigh Melrose (Oedipe) und Karolina Gumos (Jocaste) in „Oedipe“ an der Komischen Oper
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Bild: dpa

Von diesem halboffenen, melancholisch-ironischen Ende gibt es eine Querverbindung nicht nur zu Sophokles’ Original, sondern auch zur Schluss-Apotheose von George Enescus Vertonung „Œdipe“, die in der Komischen Oper zu erleben war: freilich nicht als widerständiges Weitermachen und Neuanfangen wie bei Eddy aus dem East End, sondern als verklärtes Hineingleiten des tragischen Helden in die bergenden Arme der Götter – Ende einer von der Geburt bis zum Tod ausgebreiteten Lebensgeschichte, die für den Komponisten, der über ein Vierteljahrhundert mit dem Stoff rang, auch ein Teil seiner eigenen wurde.

Das monumentale Menschheitsgleichnis des Rumänen, passagenweise eher Oratorium als Oper, ist, anders als Turnages gegenwartsnahe Lesart, ganz den zeitlosen Fragen schicksalhaft-tragischen Ausgeliefertseins gewidmet. Und während bei Turnage kein Tropfen Blut floss, gab es hier überreichlich davon plus Geburtswehen- und vielerlei anderem Wehgeschrei, düsteren Sexverknäuelungen und rotschwärzlich baumelndem Gekröse. In Evgeny Titovs Regie allerdings erlangen solche Standard-Beilagen heutiger Theaterregie tatsächlich eine übers Schockhafte hinausgehende Sinnhaftigkeit und erscheinen, eingebunden in ein Geflecht archaisch-ritueller Urformeln, gleichsam transzendiert. Rufus Didwiszus hat dazu die Bühne mit der scharf eisigen Brutalität horizonthoher korrodierender Metallplatten umgrenzt, zwischen denen eine mobile Leuchtröhren-Skulptur sich bedrohlich ringelt oder streckt – so beim Erscheinen der Sphinx, deren Interpretation als direkte Spiegelung Ödipus’ eine der vielen gelungenen Ideen der nur selten überdemonstrativen Inszenierung ist; Katarina Bradić sang sie mit giftig erstickter Heimtücke.

Komplementär zur kalt wuchtigen Präsenz in Szene und Handlung entfaltete sich der warme, seelenumfassende und bei aller Monumentalität nie klotzige, oft poetische Fluss von Enescus Musik. Ainārs Rubiķis ließ das Orchester in gleitend changierenden, gleichsam mediterranen Farben aufblühen. Die prächtigen, raumumstellenden Chormassen – einstudiert von David Cavelius und Dagmar Fiebach – erdeten und verankerten, wie am anderen Haus die putzmuntere Komparserie, das Individuelle im Kollektiven. Doch natürlich steht und fällt das Glück des Abends mit der Besetzung des Haupthelden. In Turnages Variante zeigte Dean Murphy sportive Gewandtheit und einen zwar auch zur Innigkeit und Verinnerlichung fähigen, aber vor allem jugendlich-frischen, umweglos direkten Zugriff. Leigh Mel- rose wiederum leistete bei Enescu nicht nur konditionell Grandioses, sondern lotete die enorme Spannweite zwischen existenzieller Verunsicherung und aggressiver Selbstvergewisserung mit einer enormen, höchstens im lyrisch-Meditativen etwas gestutzten Klang- und Emotionsfarbpalette aus – fabelhaft! Jens Larsens bösknirschend-knarziger Tiresias und Vazgen Gazaryans patriarchalisch bassdröhnender Hohepriester sind zwei Beispiele der durchweg hoch individualisierten Charakterbilder im Solistenensemble, denen sich auch die beeindruckend kontrastierenden Psychogramme der beiden Mutterfiguren – Karolina Gumos’ Jocaste mit finster-gedämmter und dann umso wilder losbrechender Sinnlichkeit, Susan Zarrapis Merope in kühler Eleganz – einfügten. An der Bismarckstraße spielten neben Murphy drei weitere Protagonisten alle restlichen Rollen: Seth Carico in grandios komischer, geradezu mitleiderregender Kleinbürger-Trottelhaftigkeit, Irene Roberts und Heidi Stober in der wirksamen Kontrastsetzung von schluffig-lasziver Sinnlichkeit und jiepernder Muttibesorgtheit. Wer Gelegenheit hatte, beide Spektakel zu erleben, war mit solch erhellenden Gegenschnitten en gros und en détail besonders gut dran. Mehr davon!

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