#Die Vergessenen der Pandemie
„Die Vergessenen der Pandemie“
Der Himmel über Berlin ist fahl, aber die Zeichen stehen auf Aufbruch.
„Hi, ich bin übrigens Jette“, sagt eine junge Frau zu einer anderen mit ähnlich perfektem Make-up, die ebenfalls ihren Namen nennt. „Nice. Und du bist jetzt hierher gezogen?“
Vor dem Henry-Ford-Bau der Freien Universität sammeln sich am Montagmittag Menschen mit Rucksäcken und Leinenbeuteln, die sich seit dem 1. Oktober Studierende nennen dürfen. Die zentrale Einführungsveranstaltung für das Wintersemester ist gerade vorüber. Wer nicht auf seinem Handy herumgetippt hat, ahnt jetzt, was es mit Leistungspunkten, Modulen und der Rückmeldungsfrist auf sich hat – das übliche organisatorische Klein-Klein, das jedem universitären Erweckungserlebnis vorgeschaltet ist. Trotzdem ist dieser Semesterstart etwas Besonderes. Der Universitätspräsident hat aus einer Rede zitiert, die Loriot vor mehr als zwei Jahrzehnten an der Freien Universität gehalten hat: „Häufige Anwesenheit bei Vorlesungen gefährdet nicht die Gesundheit.“ Außerdem versucht er zu witzeln: „FU heißt nicht Fernuniversität, wie man in diesen Corona-Zeiten denken sollte.“
550 Studienanfänger, verteilt auf drei Hörsäle, Impfnachweis, Masken und immer mindestens ein Sitzplatz dazwischen frei: es sei ungewohnt, plötzlich wieder unter so vielen Menschen zu sein, sagen zwei junge Männer, die sich aus dem Audimax geschlichen haben, weil sie als angehende Masterstudenten ein bisschen gelangweilt waren. Der eine hat trotzdem glänzende Augen: „Es ist einfach voll das schöne Gefühl, wieder herzukommen“, sagt er.
Als die Pandemie das Land in den Lockdown zwang und damit auch der Universitätsbetrieb auf Eis gelegt wurde, waren die Hochschulen stolz, wie schnell, flächendeckend und geräuschlos der Umstieg auf die Online-Lehre gelang. Dabei ist es seitdem geblieben: drei Semester Online-Lehre, flächendeckend und fast geräuschlos.
„Ich habe das Gefühl, dass die Situation von drei Millionen Studierenden in Deutschland einfach überhaupt nicht vorkam“, sagt Fynn. Immerzu die Diskussion um die Schulen und die Belastungen für Kinder und Jugendliche. Aber junge Erwachsene? „Mich ärgert es, dass man nicht wirklich würdigt, dass diese junge Generation anderthalb Jahre lang sehr solidarisch war“, sagt Fynn am Telefon. Der 19-Jährige studiert Maschinenbau in Aachen und kommt jetzt ins dritte Semester.
Er ist ein typischer Vertreter dieser verlorenen Corona-Generation: Nach dem Abitur im Lockdown bestand seine Erstsemesterwoche aus einer digitalen Stadtrallye und Fachschaftsveranstaltungen im Livestream. Anstatt nach Aachen zu ziehen, blieb er zunächst bei den Eltern wohnen. „Gerade im ersten Semester habe ich ganz oft gemerkt, dass mir die Motivation fehlte. Da ging es mir nicht so super.“ In der Klausurenphase lag er abends wach im Bett. Das kannte er nicht von sich. Fynn war ein guter Schüler gewesen, psychisch stabil, frei von Prüfungs- und Versagensangst. Jetzt drehten sich seine Gedanken im Kreis: „Um Gottes willen, das ist alles viel zu viel. Das kann man gar nicht schaffen. Ich bin nicht gut genug. Mache ich das Richtige? Gehöre ich überhaupt hier hin?“
Es hatte Alarmsignale gegeben. Untersuchungen des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung zur Studiensituation in der Corona-Pandemie hatten für das erste Online-Semester herausgearbeitet, dass sogenannte vulnerable Gruppen besonders litten: Studierende mit Kind, mit Beeinträchtigungen, aus Nichtakademikerfamilien, internationale Studierende. Finanzielle Nöte und Gesundheitssorgen standen im Vordergrund. Dazu ein Wert, der angesichts von Lockdown-Bedingungen niemanden verwundern konnte: 86 Prozent der Studierenden gaben im Sommersemester 2020 an, dass sich der Kontakt zu ihren Kommilitonen verschlechtert habe. Nun weiß man um den Einfluss, den die „soziale Integration“, also die Anbindung an die Hochschule, der Austausch mit Dozenten und Mitstudierenden, auf die Leistung und die Zufriedenheit im Studium hat.
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