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#Du bist so eitel, du meinst, dieser Text sei über dich?

„Du bist so eitel, du meinst, dieser Text sei über dich?“

Der stilistische Einfluss der 1973 ge­borenen Amerikanerin Maggie Nelson auf die aktuelle deutschsprachige Literatur ist kaum hoch genug einzuschätzen: Es ist vielerorts ein mehr oder weniger eingestandenes Nacheifern und Abkupfern ihrer Schreibweise zu beobachten, die zwischen Roman, Essay und Dichtung kaum noch trennt, literaturgeschichtlich und theoretisch schwer bepackt ist und doch leicht­händig mit Einflüssen aus allen Künsten und Epochen jongliert, oft mit dem Ziel, zwischen polemischen Meinungen eine Position der Vagheit einzunehmen.

Werke von Maggie Nelson zu lesen bedeutet, sich in ein Netz der Intertex­tualität zu begeben. Es besteht die Gefahr, eingesponnen zu werden. Bei dem Versuch, sich aus den Fäden zu wickeln, gibt es allerdings viel zu lernen. Im vorliegenden Band über die von Nelson „empfundene Komplexität des Freiheitsdrangs in vier verschiedenen Bereichen – Sex, Kunst, Drogen und Klima“ begegnet intertextuelle Verwicklung allerorten – und besonders im Bezug auf die Kunstfreiheit.

Die Gefahr der arroganten Fehl­deutung

Eingestimmt mit Nelsons grundsätzlicher Betrachtung, dass der Freiheitsbegriff inzwischen so ausgehöhlt sei, dass er auch zu sehr fragwürdigen Auslegungen komme, welche dann die Freiheit anderer beschneiden (Beispiele aus der Trump-Ära finden sich leicht), kommt die Autorin auf eine Grundbewegung der Künste von den historischen Avantgarden bis heute zu sprechen, bei der die radikale Freiheit und die Ästhetik des Schocks, die etwa mit dem Futurismus geradewegs zur Vorstellung von „hygienischer Gewalt“ (Marinetti) und Krieg geführt habe, ihr Gegenstück in einer „reparativen“ Kunst gefunden hat, die davon ausgeht, dass „das Publikum beschädigt ist und Heilung, Hilfe und Schutz braucht“. Diesen Zug weist sie dann auch in der Interpretation und Bewertung von Kunst und Literatur nach. Auch hier ist ein reparativer Ansatz zu beobachten, für den Nelson grundsätzlich Verständnis hat: „In einer Zeit, in der Hetzer und Brutalos die ‚freie Meinungsäußerung‘ zu ihrem unaufrichtigen Schlachtruf erkoren haben und für ihre Zwecke instrumentalisieren, ist es verständlich, dass einige dem Freiheitsdiskurs mit Kritik, Verweigerung oder Diffamierung begegnen und fordern, dass Freiheit durch Care ersetzt wird.“

Maggie Nelson: „Freiheit“.


Maggie Nelson: „Freiheit“.
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Bild: Hanser Berlin Verlag

Im Buchtitel und an anderer Stelle wird „care“ mit „Zuwendung“ übersetzt, es läge freilich auch der Begriff der Achtsamkeit nahe. Die Care-Schule in Anwendung auf Interpretation birgt indes, wie andere literaturwissenschaftliche und kritische Schulen auch, die Gefahr der arroganten Fehl­deutung. Auch diese problematisiert Nelson, und zwar anhand eines 2003 veröffentlichten Aufsatzes der Literaturwissenschaftlerin Eve Kosofsky Sedg­wick mit dem kuriosen Titel „Paranoid reading and reparative reading, or, You’re so paranoid, you probably think this essay is about you“. Der Titel ist seinerseits eine gewitzte Anspielung auf eine Liedzeile von Carly Simon: „You’re so vain, you probably think this song is about you.“

Literatur ist kein Demoschild

Während Nelson das „paranoide Lesen“ gesellschaftlich und insbesondere aus feministischer Sicht für hilfreich und heilsam hält, findet sie dessen Anwendung auf die Kunst äußerst fragwürdig. Hier ist sie erfreulicherweise nicht vage, sondern sehr klar: „Denn wenn wir schon wissen, was ein Kunstwerk ausdrücken oder wie es wirken soll, bevor wir es herstellen oder erleben, wenn seine Aussage auch durch einen TED-Talk, eine PowerPoint-Präsentation, einen Leitartikel, ein Demoschild oder einen Tweet vermittelt werden könnte, wenn seine In­terpretation vorprogrammiert und einheitlich wäre, warum sollten wir uns dann mit der langsamen Arbeit des Schauens, Machens, Lesens oder Denkens herumplagen?“

Nelson legt dann mit vielen interessanten Beispielen die „gewaltigen Ironien“ des Achtsamkeitsdiskurses offen und damit den Finger in die Wunde einer Literaturkritik, die immer öfter gar nicht mehr bereit dazu scheint, einen literarischen Text als offenes Kunstwerk statt als Meinungsäußerung zu verstehen, und noch weniger bereit, diesen jenseits von identifikatorischer Lektüre (eine Romanfigur oder Erzählstimme gefällt mir nicht, ist also böse) vielleicht auch gerade in seiner Abschreckung als hilfreich zu begreifen.

Die dann folgenden Überlegungen Nelsons über „verletzende Worte“ und „Polizisten im Kopf“ mit ebendieser Haltung zu lesen und nachzuvollziehen, auch und gerade wenn nicht alles davon Zustimmung findet, sondern auch zum Widerspruch fordert, könnte heilsam sein.

Maggie Nelson: „Freiheit“. Vier Variationen über Zuwendung und Zwang. Aus dem Englischen von Cornelius Reiber. Hanser Berlin Verlag, Berlin 2022. 400 S., geb., 26,– €.

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