#Gehirn der Fruchtfliege erstmals vollständig kartiert
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Die Gehirnforschung macht stetige Fortschritte und doch bleiben viele Vorgänge in unserem Denkorgan ein Rätsel. Nun ist Neurowissenschaftlern ein Durchbruch gelungen: Sie haben eine Karte erstellt, mit der sich die Funktionsweise des Gehirns detaillierter als bisher möglich untersuchen lässt. Es handelt sich um den ersten Schaltplan eines gesamten Gehirns eines Tieres, das sich bewegen und sehen kann – dem der Fruchtfliege. Die Karte umfasst rund 140.000 Neuronen und über 50 Millionen neuronale Verbindungen. Künftig könnten auch die Gehirne anderer Spezies kartiert werden, wie das Team in „Nature“ berichtet.
Unser Gehirn steuert, wie wir uns verhalten. Möglich machen dies die zahlreichen Neuronen im Gehirn, die auf komplexe Weise miteinander verbunden und verschaltet sind. Um zu verstehen, wie das Gehirn funktioniert, muss man daher die Verbindungen zwischen den Gehirnzellen kennen. Forscher bemühen sich seit langem um eine neuronale Karte, auf der diese Schaltkreise detailliert verzeichnet sind.
Drosophila als Modell
Als Ausgangspunkt verwenden Neurowissenschaftler dabei unter anderem die Fruchtfliege (Drosophila melanogaster). Das Fliegengehirn enthält zwar etwa eine Million Mal weniger Neuronen als das menschliche Gehirn. Die Fruchtfliege zeigt aber bereits eine Reihe komplexer Verhaltensweisen, vom Fliegen und Navigieren bis hin zu sozialen Interaktionen. Zudem sind 60 Prozent der menschlichen DNA mit der von Fruchtfliegen identisch und drei von vier genetischen Krankheiten des Menschen gibt es auch bei Fruchtfliegen. Daher sind die Tiere als Modellorganismus prädestiniert. Bislang gelang es jedoch nur, unvollständige Karten des Fliegengehirns zu erstellen.
Ein Forschungsteam des „FlyWire Consortiums“ um Sven Dorkenwald von der Princeton University hat nun erstmals eine vollständige Karte für das gesamte Gehirn angefertigt. Dafür schnitten die Forschenden das winzige Gehirn einer weiblichen Fruchtfliege in 7000 dünne Scheiben und fertigten mit Elektronenmikroskopen hochaufgelöste Bilder an. Das Team aus Neurowissenschaftlern und professionellen Tracern kartierte anhand von diesen 21 Millionen Bildern dann akribisch die Positionen und Verbindungen jeder einzelnen Gehirnzelle. Mithilfe einer KI wurde aus diesem Datenberg eine 3D-Karte, die die Wissenschaftler sorgfältig prüften.

Vollständiger Schaltplan des Fliegengehirns
Auf dem fertigen Schaltplan, auch Konnektom genannt, sind nun alle 139.255 Neuronen und 54,5 Millionen Synapsen der Fliege verzeichnet. Das sind rund sieben Mal mehr Neuronen und fast vier Mal mehr Schaltstellen als bei der Hirnkarte, die zuvor als die umfassendste galt. „Das ist ein großer Erfolg“, sagt Seniorautorin Mala Murthy von der Princeton University. „Es gibt kein anderes vollständiges Hirnkonnektom für ein erwachsenes Tier dieser Komplexität.” In einem zweiten Schritt haben die Neurowissenschaftler diese Gehirnkarte zudem beschriftet und mit detaillierten Anmerkungen zu den einzelnen Zellen und Schaltkreisen versehen. Das Fliegenhirn umfasst demnach mehr als 8.400 verschiedene Zelltypen, von denen 4.581 zuvor unbekannt waren. Diese liegen in Hirnregionen, die auf den früheren Karten nicht verzeichnet waren.
Darüber hinaus haben die Forschenden auch untersucht, welche Synapsen und neuronalen Schaltkreise für bestimmte Verhaltensweisen oder Bewegungen zuständig sind. Sie fanden beispielsweise drei Neuronen, die Fliegen in ihrer Bewegung innehalten lassen: Foxglove, Bluebell und Brake genannt. Das zeigt genauer als je zuvor, wie Körper und Gehirn miteinander kommunizieren und wie die Struktur des Gehirns dessen Funktion bestimmt. Beim Vergleich der neuen Karte mit früheren Teilkarten des Fliegengehirns fanden die Wissenschaftler zudem erhebliche Ähnlichkeiten hinsichtlich der Verschaltung der Hirnzellen. Nur 0,5 Prozent der Neuronen waren anders verknüpft. Das Team schließt daraus, dass einzelne Gehirne sehr ähnlich aufgebaut und nicht einzigartig wie eine Schneeflocke sind. Ob die 0,5 Prozent Veränderung ein Ausdruck von Individualität oder Gehirnstörungen sind, müssen nun Folgestudien zeigen.
Fliegen singen: Männliche Fliegen benutzen ihre Flügel, um verschiedene Melodien zu summen, die ihnen eine Partnerin bescheren. Weibliche Fliegen verwenden diese Melodie, um zu entscheiden, ob sie sich mit einem Männchen paaren. Diese Gehirnzellen sind für die Erkennung von Gesängen verantwortlich und spielen eine Rolle bei der Entscheidungsfindung. © Amy Sterling, Murthy and Seung labs, Princeton University, (Baker et al., Current Biology, 2022)
Google Maps für das Gehirn
„Was wir gebaut haben, ist in vielerlei Hinsicht ein Atlas, eine Art Google Maps für das Gehirn”, sagt Dorkenwald. „Damit sind Forscher nun in der Lage, das Gehirn sorgfältig zu erkunden, während sie versuchen, es zu verstehen.“ Co-Autor Gregory Jefferis von der University of Cambridge ergänzt: „Die Schaltpläne des Gehirns sind ein erster Schritt zum Verständnis all dessen, was uns interessiert – wie wir unsere Bewegungen steuern, ans Telefon gehen oder einen Freund erkennen.“
Mithilfe der Techniken, die zur Konstruktion des Schaltplans des Fruchtfliegengehirns verwendet wurden, könnten künftig auch die Gehirne anderer Arten kartiert werden, berichten die Forschenden. Die Studie ebnet so den Weg für die vollständige Kartierung größerer Gehirne, einschließlich dem des Menschen. Die Entwicklung könnte daher auch eines Tages zu maßgeschneiderten Behandlungen für Hirnerkrankungen und psychische Erkrankungen führen. Nächste Etappenziele sind jedoch zunächst die Kartierung der Gehirne von männlichen Fruchtfliegen sowie von Mäusen.
Quellen: Sven Dorkenwald (Princeton University) et al.; Nature, doi: 10.1038/s41586-024-07558-y. Philipp Schlegel (MRC Laboratory of Molecular Biology) et al.; Nature, doi: 10.1038/s41586-024-07686-5. Weitere Studien des FlyWire Consortiums.
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