#Ein Virtuose des Beginns
Inhaltsverzeichnis
„Ein Virtuose des Beginns“
Die letzten Minuten vor dem Konzertbeginn, im Dunkeln neben der Bühne, während draußen schon das Bühnenlicht hochfährt. Einige Schritte zum Instrument.
Wie fängt man an?
Oder alljährlich an der Theke des italienischen Restaurants um die Ecke der Romanfabrik, Frankfurt. Anfang Januar. Der erste Freitag im neuen Jahr, immer im Duo mit Heinz.
Wie hat es angefangen, dieses Jahr? Was fangen wir damit an?
Das Jahr 2022 wird damit aufhören, dass Heinz Sauer neunzig Jahre alt wird, und es ist der Geburtstag eines Freundes und der Geburtstag eines großen Künstlers. Heinz ist der Letzte, der eine Feierlichkeit oder Festtagsrede in seinem Namen ertragen kann, und der Erste, der sich von irgendwelchen historischen Einordnungen seiner Person abwenden wird. Man muss aber an diesem Tag von seiner Größe sprechen, und wenn ich es nun in diesen Zeilen tue, dann in aller Knappheit und mit Rücksicht auf meinen Freund, der mir diese Worte verzeihen wird: Heinz Sauer ist einer der wenigen wirklichen musikalischen Giganten, die wir im europäischen Jazz jemals hatten. Sein Name sollte genannt werden, wenn andere im Umlauf sind.
Zuhörer und Mitspieler ins kalte Wasser werfen
Letztlich geht es bei Heinz dennoch nicht um das Vermächtnis, sondern um das Anfangen. Etwas noch nicht wissen. Zuhörer und Mitspieler ins kalte Wasser werfen. Premieren, die einen ganz verliebt machen können und die es ernst meinen mit dem Improvisieren und dem Sich-Ausliefern, dem Verweigern der Regeln und dem Herausfordern des Ständig-neu-Erfindens. Zweifeln, in dubio Verdichtung statt Entwicklung. Zu Heinz kommt man immer am besten ohne Gepäck und Route, das passt nicht allen. Aber die, die mitkommen, wollen eigentlich nie mehr anders reisen.
Nach dem Konzert immer wieder Gespräche mit Zuhörern, die sich an ihn erinnern aus früheren Zeiten; der sie jetzt aber auflaufen lässt, der sich und ihnen keine Erinnerung gestattet, der entweder neu oder gar nicht ins Gespräch kommen möchte. Nur nicht schwelgen in alten Zeiten, nur keine licks auspacken und nur keinen Kitsch.
Genau so tritt er den Songs und Harmoniefolgen gegenüber: als entdecke er sie zum ersten Mal. (Dass auch sie alte Bekannte sind, macht die Sache nicht einfacher.) Oder gegenüber dem Saxophon: „Eigentlich hasse ich mein Instrument“, was nur einer sagen kann, der sein gehasstes Instrument so sehr kennt, dass er nur den Verlust des Noch-nicht-Vertrauten fürchtet. (Von Virtuosität wird also noch zu sprechen sein.) Oder gegenüber den eigenen Einfällen: „Spiel nicht, was ich aufgeschrieben habe“, so die erste Anweisung an mich, den damals 23 Jahre Alten zu Gast beim Jazzensemble des Hessischen Rundfunks. Oder ganz generell gegenüber der Musik und dem Jazz: „Ich habe schon zu viel gehört“, beim gemeinsamen Hören einiger gefeierter aktueller Aufnahmen.
Enden waren nie abgesprochen
Wie er, anfangs Physiker, mit einem Blick Akkorde, Intervalle und Strukturen seziert; und wie er sich stets von all dieser Erkenntnis distanziert und stattdessen etwas Unberechenbares vor den Ohren seiner Zuhörer entwirft, sich abringt, als könne sie dieses Mal gelingen: diese eine, dem Moment entwundene Tonfolge ohne Absicht, Maß und Muster. Wie so immer wieder Klänge entstehen, die erhaben und weise sind, die süchtig und bange machen, die trösten und erstaunen. Sie gelingen ohne Erwartung und vergehen ohne Erinnern. Immer wieder aufs Neue: nicht das Bekannte, Funktionierende, Bewusste beabsichtigen; nicht das Gelungene und das Gelingende festhalten. Die Essenz zeigt sich dann – vielleicht – von außen, im Vorläufigen oder auch einfach nur dazwischen.
Jazz, oder nicht?
Als Heinz vor einigen Jahren meinem Sohn, ein paar Tage alt, in die Augen blickt, sagt er: „Für ihn ist jetzt alles neu.“ Für Heinz muss es das auch sein – er selbst hat sich das so gewählt. Ein einzelner Virtuose des Beginns und noch dazu einer, der seiner Umgebung den Neuanfang zur Bedingung macht. Der in Bach, Argerich, Jarrett oder Coltrane nicht den Kanon hört, sondern Beispiele für deren hart erarbeitetes Vertrauen in das Intuitive, Ungehörte. Berechnete Phrasen, optimierte Geläufigkeit oder trainierte Treffsicherheit – belanglos. Virtuosität meinte immer: den auf alles gefassten Umgang mit der Absichtslosigkeit, die unerschrockene Suche nach Ungewissheit, die Verweigerung des Erschlossenen. Üben, um es nicht zu spielen. Keine Kopien, keine Bespiegelung, keinerlei Guthaben. Auch Geburtstage feiern will er nicht. Neunzig Geburtstage, neunzig unnötige Erinnerungen. Besser: den Blick immer nach vorn und nur nach vorn.
Wie hier also schließen? Eine Coda wäre ihm wesensfremd. Manchmal haben wir erst einige Sekunden später verstanden, dass wir das Stück gerade beendet hatten. Enden waren nie abgesprochen, stattdessen haben sie uns stets vom Abhandenkommen des Unvertrauten bewahrt.
Ich wünsche meinem Freund von Herzen alles Gute und gratuliere: einem Giganten.
Michael Wollny , Jahrgang 1978, ist Jazzmusiker. Er lernte Heinz Sauer 1999 beim Jazzensemble des Hessischen Rundfunks kennen. Seit 2001 spielen sie immer wieder im Duo und haben gemeinsam vier Alben veröffentlicht, zuletzt „Don’t Explain“ (2012).
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