Wissenschaft

#Eine Prothese mit Temperaturgefühl

Bisher ersetzen Prothesen zwar die mechanische Funktion der verlorenen Gliedmaßen, können aber noch nicht alle Empfindungen übertragen. Eine neuartige Sensoreinheit für Handprothesen könnte es Amputierten zukünftig ermöglichen, mit ihrer künstlichen Hand Temperaturen wahrzunehmen. In einem Pilotversuch konnte eine Testperson mit Hilfe des Geräts nicht nur die Temperatur von Gegenständen unterscheiden, sondern auch menschlichen Körperkontakt natürlicher wahrnehmen. Die Sensoren lassen sich in bestehende Handprothesen integrieren und erfordern keine Operation. Bis zur Marktreife sind allerdings noch weitere Tests und Entwicklungen erforderlich.

Menschen, die eine Hand verloren haben, können dank technisch ausgefeilter Prothesen einige Funktionen des amputierten Körperteils zurückerlangen. Moderne Prothesen lassen sich mit den elektrischen Signalen aus den Muskeln im Stumpf steuern, sodass sich die Bewegungen nach einer gewissen Trainingsphase relativ natürlich anfühlen. Sensoren in den Fingern der künstlichen Hand geben zudem ein sensorisches Feedback, sodass Betroffene besser regulieren können, wie fest sie zupacken.

„Sensorische Rückmeldungen sind für Amputierte entscheidend, um mit der Prothese auf natürliche Weise mit der Umgebung zu interagieren. Viele Forschungsteams haben deshalb bereits Neuroprothesen entwickelt, die das taktile Empfinden wiederherstellen“, schreibt ein Team um Jonathan Muheim von der Eidgenössischen Technische Hochschule Lausanne in der Schweiz. „Was bislang aber fehlte, war die Möglichkeit, ein thermisches Empfinden zu vermitteln.“

Phantom-Gefühl in verlorenen Fingern

Dafür haben Muheim und seine Kollegen nun eine Lösung entwickelt. In einer vorangegangenen Studie hatten sie bereits gezeigt, dass die Stimulation bestimmter Punkte am Stumpf das Gefühl vermitteln kann, die nicht mehr vorhandenen Finger würden etwas Warmes oder Kaltes berühren. Diesen Effekt nutzten sie aus. Ihr Gerät namens „MiniTouch“ misst die Temperatur mit einem Sensor, der an den Fingerspitzen der Prothese angebracht wird, und leitet die Signale in Echtzeit weiter an eine Einheit, die die passende Stelle am Stumpf stimuliert.

„Dies ist eine sehr einfache Idee, die leicht in kommerzielle Prothesen integriert werden kann“, sagt Muheims Kollege Silvestro Micera. „Die Temperatur ist eine der letzten Grenzen für die Wiederherstellung des Gefühls in Roboterhänden. Zum ersten Mal sind wir wirklich kurz davor, Amputierten die gesamte Palette an Empfindungen wiederzugeben.“ Da die Stimulation lediglich an der Hautoberfläche erfolgt, ist keine Operation erforderlich.

Vielversprechende Ergebnisse

Die erste Testperson war ein 57-Jähriger Mann, dessen Hand vor 37 Jahren amputiert wurde und der seither eine Prothese nutzt. Zunächst identifizierten die Forschenden die Stelle an seinem Stumpf, bei deren Stimulation er Phantom-Temperaturempfindungen in seinem verlorenen Zeigefinger spürt. Darauf passten sie das MiniTouch-Geät an. Die zugehörigen Sensoren konnte der Proband wie einen Fingerhut über seine Prothese ziehen. Mit verschiedenen Tests prüften die Forschenden die Fähigkeit des Probanden, mit Hilfe des Geräts Temperaturen wahrzunehmen. Tatsächlich war er in der Lage, zuverlässig drei äußerlich identische Flaschen mit kaltem, heißem und zimmerwarmem Wasser zu unterscheiden. Zudem konnte er das Material kleiner Plättchen aus Plastik, Glas oder Kupfer mit ähnlich hoher Treffergenauigkeit erkennen wie mit seiner echten Hand.

„Das thermische Empfinden ist aber nicht nur wichtig, um die Temperatur oder das Material eines Objekts zu erkennen, sondern auch für ein natürlicheres Gefühl bei menschlichen Berührungen“, erklären die Forschenden. In einem weiteren Test sollte der Proband deshalb mit verbundenen Augen erkennen, ob er eine menschliche oder eine künstliche Hand berührt. Während seine Trefferquote bei ausgeschaltetem Gerät bei lediglich 60 Prozent lag, also nicht viel über der Zufallswahrscheinlichkeit von 50 Prozent, erkannte er mit Hilfe von MiniTouch in 80 Prozent der Fälle korrekt, ob es sich um eine menschliche oder eine künstliche Hand handelte.

Weitere Verbesserungen geplant

„Durch die Hinzufügung von Temperaturinformationen wird die Berührung menschenähnlicher“, erklärt Muheims Kollege Solaiman Shokur. „Wir glauben, dass die Fähigkeit, die Temperatur zu spüren, das Körpergefühl von Amputierten verbessern wird – das Gefühl, diese Hand gehört zu mir.“ In Bezug auf die Wahrnehmung menschlicher Berührungen sehen die Forschenden noch Verbesserungsbedarf. Beispielsweise wollen sie zusätzlich Technologien integrieren, die es auch ermöglichen, die Weichheit und die Beschaffenheit der Haut wahrzunehmen. „Unser Ziel ist es, ein multimodales System zu entwickeln, das Berührungs-, Propriozeptions- und Temperaturempfindungen integriert“, sagt Shokur. „Mit dieser Art von System werden Menschen in der Lage sein zu sagen: ‚Das ist weich und heiß‘ oder ‚Das ist hart und kalt‘.“

Im Pilotversuch bezogen sich alle übermittelten Temperaturinformationen nur auf den Zeigefinger. Mit zukünftigen Modellen wollen die Forschenden diese Gefühle für alle Finger zurückbringen. Auch für den Handrücken planen sie entsprechende Sensoren, da natürlich wahrgenommene Berührungen in dieser Region das Gefühl menschlicher Verbundenheit verbessern können. Bevor das Gerät reif für die Praxis ist, muss es zudem in größeren Studien auf Funktionalität und Sicherheit getestet werden.

Quelle: Jonathan Muheim (École Polytechnique Fédérale de Lausanne, Schweiz) et al., Med, doi: 10.1016/j.medj.2023.12.006

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