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#Einen Schlusspunkt gibt es nicht

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Einen Schlusspunkt gibt es nicht

Der letzte Brief ging ins Leere; die Bitte an Friederike Mayröcker, sich an unserer Serie „Dantes Verse“ zu beteiligen, blieb unbeantwortet. Auch von Edith Schreiber, ihrer engen Vertrauten, die sich um alle Fragen der Kommunikation mit der Außenwelt kümmerte. Das war ungewöhnlich, Friederike Mayröcker nahm die Gebote der Höflichkeit sehr ernst, sie gehörten zu ihrer Innenwelt. Die Sorge um sie war fortan groß, und sie wurde nicht kleiner, als verlautbart wurde, dass sie die Zentagasse habe verlassen müssen, jene Anderthalbzimmerwohnung im Wiener fünften Bezirk, in der sie seit 1953 gelebt hatte, lange Jahre Tür an Tür mit ihrem Dichterkollegen und Lebensmenschen Ernst Jandl. In der sie vor allem aber geschrieben hatte, weil sie es nirgendwo anders gern tat, Morgen für Morgen, vor Tau und Tag, wenn nichts sie ablenkte.

Es überraschte deshalb nicht, dass man nun auch hören musste, dass sie nach dem Umzug in ein Pflegeheim nicht mehr schreiben wolle. Aber wie sollte man sich Friederike Mayröckers Leben ohne das vorstellen? Ihr Leben war das Schreiben. „Wie auch immer“, hatte sie ihrem Kollegen und Freund Marcel Beyer einmal gesagt, „ich arbeite weiter, so lange ich kann.“

1 Gestrüpp im Blumentopf

Eine Probe dieser Arbeit in der Zentagasse, 2014 geschrieben für diese Zeitung, als Rückblick auf eine damals fast anderthalb Jahrzehnte zurückliegende andere Niederschrift am selben Ort: „Vogel faltenlos, 2 weisze Steinchen, 1 Gestrüpp im Blumentopf. Am frühen Morgen des 4. Juni 2000 sitze ich am Küchentisch und höre den Ruf des Pirols. 1 biszchen Aulandschaft. Auf dem mit roten Amaryllisblüten bedruckten Tischtuch schreibe ich 1 Gedicht während das Haustelefon läutet: EJ bittet mich zu kommen, ich unterbreche verstört meine Arbeit – obwohl der Anfang des Gedichts geht auf den Anblick ein Gemälde der Malerin Maria Gruber zurück die weiszen (ausgesparten) Stellen sind meine Maiglöckchen Offenbarung. Obwohl der Anfang des Gedichts geht auf den Besuch bei meinem Arzt Herwig Niessner zurück welcher sich verbeugt und die Hände faltet wenn ich die Praxis betrete = die Kommunion des fliederfarbenen Hasen ich will meine Seele tauchen geschrieben 5 Tage vor EJ’s Tod.“

Diese ihr eigene Form der Ver- statt Versdichtung nannte Elfriede Mayröcker „Proem“. Im Englischen bezeichnet das eine Hinführung, die ein Schriftsteller zu einem eigenen Text verfasst. Tatsächlich war die eben zitierte Passage Mayröckers Erläuterung eines eigenen Gedichts – jenes, das am 4. Juni 2000 entstand und bei dessen Abfassung Jandl, der EJ aus dieser Erinnerung, sie störte. Aber im Deutschen liest man das Wort „Proem“ als Neologismus, eine Fügung aus Prosa und Poem.

Niemand dichtete wie Friederike Mayröcker. Auch Ernst Jandl nicht, mit dem die am 20.Dezember 1924 geborene Wienerin seit ihrem dreißigsten Lebensjahr eine symbiotische Beziehung pflegte, die in der deutschsprachigen Literaturgeschichte ihresgleichen nicht hat. Noch einmal, zwei Tage später in jenem Jahr 2000, am 6.Juni, nur drei Tage vor seinem Tod, brachte Friederike Mayröcker die Gemeinsamkeit dichterisch in ein Bild, als sie vier ältere Zeilen von Jandl unter dem Eindruck des Zusammenlebens so fortsetzte:

(„in der küche ist es kalt

ist jetzt strenger winter halt

mütterchen steht nicht am herd

und mich fröstelt wie ein pferd“ EJ)

in der Küche stehn wir beide

rühren in dem leeren Topf

schauen aus dem Fenster beide

haben 1 Gedicht im Kopf

Beide haben ein Gedicht im Kopf, aber nicht dasselbe. Aus der Zusammenarbeit der beiden Englischlehrer, die ihren Brotberuf zunächst nicht aufgeben konnten, entstand keine Schule in dem Sinne, dass ihre Lyrik sich einander angeglichen hätte. Jandl war und blieb der Wortspieler, Mayröcker die Wortzauberin. Damit indes machten sie Schule, etwa im Einfluss auf Marcel Beyer, um nur den wichtigsten Bewunderer und, so man denn will, Schüler zu nennen. „Friederike Mayröckers Werk hat meinen Blick auf die Welt verändert, es bestimmt meine Literatur bis heute“, schrieb er in dieser Zeitung (F.A.Z. vom 29. Juni 2016). Es dürfte allen Lesern ihrer Gedichte, Prosa und Proeme, auch dem Publikum ihrer Radiohörspiele genauso gehen. Der Klang dieser Sprache ist unvergleichlich und unvergesslich.

Ihr Lyrikdebüt erschien 1956: „Larifari – Ein konfuses Buch“. Es blieb für zehn Jahre ihr einziges. Aber dann fingen endlich auch die Leser Feuer an dieser explodierenden Lust an der Sprache, es kam Buch auf Buch heraus, und 1979 fand Friederike Mayröcker zu Suhrkamp, fortan ihr Hausverlag. 2020 erschien dort als letztes Werk zu Lebzeiten „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“, und die eigentümliche Schreibweise des Titels nimmt die Eigenart dieser morgenfrischen Notate einer Mittneunzigerin auf: Sie alle beginnen kleingeschrieben, oftmals wie mitten im Satz, und sie enden ohne Schlusspunkt. Wenn man einen Gattungsbegriff dafür finden müsste, böte sich Impressionismus an, und diese Bezeichnung enthielte auch schon das Risiko des Entstehens solcher Literatur: die Aufnahmefähigkeit. Das letzte Notat des Buchs, geschrieben am 3.November 2019, ist das kürzeste, und es lautet nur: „weh mir : mein Augé,“

Heute wissen wir, dass dies der Grabgesang für Friederike Mayröckers Schreiben war. Der Verlust der Sehkraft schnitt sie vom schaffensnotwendigen Blick auf die Welt ab, so isoliert sie auch lebte – „ich wollte immer, dasz alles so bleibe wie es sei, ich haszte Abschiede und ich haszte Veränderungen“, hat sie sich 2010 selbst charakterisiert. Aber sie wusste, warum sie das im Präteritum schrieb. Ihre letzten Bücher, vor allem die Trias „études“, „cahier“ und „fleurs“, strotzen vor Neugier im Selbstgespräch. Man hätte ihr ewig zuhören mögen, doch gestern ist Friederike Mayröcker sechsundneunzigjährig in Wien gestorben.

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