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#Eisbad, Kokain und Regenbogen

Eisbad, Kokain und Regenbogen

Musik und Körperbewegung hängen engstens zusammen. Schon der Heilige Augustinus de­finierte die Musik als Wissenschaft des wohlgestalteten Singens wie gleichermaßen als „scientia bene movendi“, nämlich als Kenntnis, sich recht zu bewegen. Alexander Nikolajewitsch Skrjabin muss von der Musik, die er schrieb, so durchdrungen gewesen sein, dass sie sich in seiner Art zu laufen niederschlug. Boris Pasternak sah als Kind, wie sein Vater Leonid mit dem Komponisten spazieren ging: „Skrjabin liebte es, nach einem Anlauf den Lauf, gleichsam mit der Schwungkraft, hüpfend fortzusetzen, wie ein als Querschläger geworfener Stein über das Wasser gleitet, nur wenig fehlte, und er hätte sich von der Erde gelöst und wäre durch die Luft geschwommen.“

Durch die Luft zu schwimmen, über dem Boden zu schweben, ist ein Zustand, den Skrjabins Musik bevorzugt erzeugen will. Nicht als Bedrohung, als Ausgesetztsein. Vielmehr als geborgenes Schweben, wie es als motorische Erinnerung in unserm Kleinhirn abgespeichert ist: un­ser Schwimmen im Fruchtwasser vor unserer Geburt. Wiegen, Stillsessel und Schaukelstühle wurden erfunden, um Kinder wie Erwachsene auf kurze Au­genblicke wieder dahin zurückzubringen, wo wir früher einmal waren. Das Glück im Wiegen, Schaukeln und Schwimmen ist ein Moment sensomotorischer Regression.

Skrjabin begreift Metrik und Harmonik als sinnliche Codes der Schwerkraft, mit denen es zu spielen gilt. Seine musikalischen Neuerungen zielen auf ein vorgeburtliches Glück, das nur empfinden kann, wer durch die Lernarbeit der Kultur die Sprache der Musik so sehr verinnerlicht hat, dass sie in ihm oder ihr quasi körperliche Reaktionen auslöst.

Das eröffnende C-Dur-Stück aus Skrjabins 24 Préludes op. 11 für Klavier ist in einem Zweihalbetakt notiert. Es arbeitet aber mit drei Gruppen aus fünf Achteln (Quintolen), die um zwei Achtel vor den Taktstrich gezogen wurden. Die gut singbare Melodie der Oberstimme täuscht – als Vorhalt d-c – einen volltaktigen Beginn vor, fängt aber im Auftakt an. Durch eine mehrfache Phasenverschiebung also gerät das Schwerpunktgefühl ins Taumeln. Alles flirrt und flimmert.

Skrjabins Harmonik verfolgt – zumindest bis zur fünften Klaviersonate – das gleiche Ziel: Ohne das Gefühl für den Grundton auszulöschen, hält sie das Ge­schehen durch sanfte, unaufgelöste Dissonanzen und durch Verfremdungen der Akkorde – die deren Strebeziel, mithin ihre syntaktische Bedeutung, verunklaren – in der Schwebe. Der ganze erste Satz der vierten Klaviersonate Fis-Dur op. 30 kostet minutenlang diesen harmonischen Schwebezustand aus und steigert ihn noch durch metrische Überlagerungen von sechs gegen acht Achtel.

Skrjabin hat hier, um das Jahr 1900, quasi ein Optimum in der Ausnutzung der Tonalität gefunden. Er geht bis an deren Grenzen, nicht um sie zu zersprengen, sondern um deren inneres Gefälle von Spannung und Entspannung zu nutzen für Reizüberflutungen schönster Art. Mit dem Übergang zur Atonalität und dem Aufbau auf dem sogenannten mystischen Akkord im Spätwerk wird das Ekstatische seiner Musik zu einem eher intellektuellen Spiel, das den Körper als Speicherort verinnerlichter Ordnung hinter sich lässt. Das Schweben empfindet nur als Glück, wer die Schwerkraft kennt. Wo die Schwerkraft und selbst die Erinnerung daran ganz aufgehoben werden, verliert das Schweben an Reiz.

Skrjabin selbst war zugleich Synästhetiker und verband Töne, genauer Tonarten, mit ganz konkreten Farbvorstellungen. In seinem „Prométhée. Poème du feu“ op. 60 für Klavier, Chor und großes Orchester setzt er ein Farbenklavier ein. Man kann aus der notierten Licht-Stimme ersehen, dass die Farbe einen formalen Zusammenhang herstellt, den die Har­monik aus eigener Kraft nicht mehr vollbringt, wie es Barbara Barthelmes einmal beschrieben hat.

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