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#Grauzonen der Wahrheit

Grauzonen der Wahrheit

Dass „recht haben“ und „Recht bekommen“ zwei sehr unterschiedliche Dinge sein können, weiß man in der Theaterwelt schon seit den alten Griechen und einem Drama wie „Antigone“: Einerseits ordnet das abstrakte Rechtssystem ganz konkret das Zusammenleben der Menschen, andererseits kann es in der Fülle der heterogenen Bedürfnisse nie allen gerecht werden. Schlag nach bei Ferdinand von Schirach: Je komplizierter eine Situation, desto schwerer der Interessenausgleich. Ein neues Kapitel in der endlosen bühnenaffinen Justizgeschichte liefert nun das „Theater Aufbau Kreuzberg“ (tak) in Berlin. Die freie Gruppe „suite42“ hat ausgiebig in Sachen deutsches Asylrecht recherchiert und daraus ein Stück entwickelt.

„geRecht“ sollte eigentlich als Auftakt einer vierteiligen Serie auf die Bühne gebracht werden, wurde jedoch wegen der Corona-Pandemie zu einer „begehbaren immersiven Filminstallation für das Theater“ umgewandelt. Auf einem halben Dutzend Leinwänden wird das Geschehen in fast zwei Stunden simultan aus wechselnden Perspektiven gezeigt, während ihm das Publikum auf Drehstühlen folgt oder durch die Bilderszenerie spaziert und sich seine eigenen Blickwinkel auswählt (Videokünstlerische Umsetzung: Daniel Hengst). Diese Mobilität der Wahrnehmung entspricht der unruhig dahinfließenden Geschichte, in der sich ein geflüchteter Afghane bemüht, Asyl in Deutschland zu erhalten. Er behauptet, dass er als Ortskraft für ausländische Firmen gearbeitet hat und homosexuell ist. Seine Hände wurden bei einem Überfall der Taliban verletzt, man kann ihm deswegen keine Fingerabdrücke abnehmen.

Traumsequenzen gegen das reale Chaos

Ob das stimmt, ob er wirklich schwul ist, ob er nicht bereits einmal in Deutschland gewesen ist, wie er es anzudeuten scheint, und damals abgeschoben wurde, weshalb er jetzt keinen zweiten Antrag stellen könnte, lässt „geRecht“ bewusst offen. Sagt der Mann in seiner Not womöglich bloß, was ihm einen Aufenthaltstitel verschaffen könnte, oder sagt er die Wahrheit? Verhandelt wird der typisierte Fall an einem Verwaltungsgericht von einer renommierten Richterin, die fest auf dem Boden des Gesetzes steht, aber seit ihrer Flucht aus der DDR weiß, wie rutschig dieser sein kann. Außerdem ist sie nervös, weil ihr Sohn, zu dem sie ein schwieriges Verhältnis pflegt, als Fotograf durch Krisengebiete reist und plötzlich vermisst wird. Kein Wunder, dass sie aus diesem realen Chaos gern in Traumsequenzen abtaucht, in denen Ameisen hektisch wie bestens organisiert herumkrabbeln. In ihren Augen haben die nämlich einen idealen Staat errichtet, ein „effizientes, perfekt koordiniertes System, das ohne ein einziges Blatt Papier auskommt“.

Angekratzter Panzer

Corinna Harfouch spielt diese bei allem Charme verletzend sachliche Richterin Baumann kurz vor dem Ruhestand mit ungerührt kühler Gesetzestreue. Da kann Omar El-Saeidi als von der Abschiebung bedrohter Afghane Farid Nogol noch so ein verzweifeltes Gesicht machen und Roland Bonjour als sein Anwalt mit kleinen Scherzen den Panzer der Richterin zumindest ankratzen wollen, sie bleibt durch und durch unbestechlich. Verdienstvoll ist in der präzisen, komprimiert-klaren Regie von Lydia Ziemke, dass die anderen Darsteller neben dem Stargast Corinna Harfouch ebenfalls überzeugen und ihren Figuren plastische Profile geben können – wie Anke Retzlaff als gestresste junge Übersetzerin, die häufig ins Schwimmen gerät, wenn sie allzu empathisch die Worte des Afghanen ins Deutsche überträgt und dabei mitunter die Nuancen verwischt, ohne zu bedenken, wie wichtig die für diese transnationale Kommunikation sind. Analog dazu sorgen der Geflüchtete und sein Anwalt immer wieder für verschobene narrative Konturen und eine beunruhigende Atmosphäre von volatiler Unschärfe: Begriffe wie Recht und Unrecht verlieren ihre Eindeutigkeit ebenso wie Fakten und Zahlen, Orte und Zeiten.

Am Schluss sucht ein Mann eine Heimat und eine Mutter ihren Sohn. Doch so einfach lässt sich die heutige Welt nicht entschlüsseln, wie das mit Filmwänden aufgeteilte Labyrinth dieser Installation sinnlich vorführen will. Die Mischung aus analogem und digitalem Theater veranschaulicht physisch direkt die Fremdheit zwischen den Kulturkreisen, die trennen kann – aber dessen ungeachtet auch verbinden und Neues entstehen lassen könnte. Konsequenterweise gibt es am Schluss keine einwandfreien Antworten, die Bilder verglimmen, die Töne verlöschen, das Leben geht weiter – vielleicht. Unbedingt noch vor der Bundestagswahl wollte suite42 diese engagierte Inszenierung herausbringen. Der blamable Abzug der ausländischen Mächte aus Afghanistan unterstreicht die Relevanz der eindrucksvollen Produktion.

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