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#Herausragendes 140-Minuten-Epos ist nervenaufreibender als die meisten Thriller und danach wollt ihr nie wieder ein Restaurant betreten

Was passiert in der Küche eines New Yorker Restaurants? Der grandiose Berlinale-Film La Cocina verhandelt ganz Amerika auf wenigen Quadratmetern, während es ununterbrochen dampft und brodelt.

Wer zuletzt die Küche im Kino gesucht hat, erlebte ein Schlemmerfest sondergleichen. In dem vor wenigen Wochen gestarteten Liebesdrama Geliebte Köchin bekommen wir rund 140 Minuten lang die leckersten Gerichte vorgesetzt, alle mit größter Sorgfalt zubereitet. Man kann sich gar nicht sattsehen an den Leckereien. Ein filmischer Genuss, der zudem völlig tiefenentspannt daherkommt. Ganz im Gegenteil zu La Cocina.

Die US-amerikanische-mexikanische Koproduktion im Wettbewerb der Berlinale 2024 teilt sich mit Geliebte Köchin die Laufzeit und den Blick in die Küche. An diesem Punkt hören die Gemeinsamkeiten aber schon auf. Wo wir uns eben noch in der Sinnlichkeit des Kochens verlieren konnten, erwartet uns jetzt purer Stress – als würde man eine halbe Staffel von The Bear: King of the Kitchen im Kino bingen.

Berlinale-Highlight 2024: La Cocina entführt in die tosende Küche einer New Yorker Touristenfalle

Schon die ersten Bilder von La Cocina bergen eine aufwühlende Unruhe in sich, wenn wir mit der jungen Estela (Anna Diaz) im pulsierenden New York ankommen. Regisseur Alonso Ruizpalacios zieht mit entfesselter Kamera durch die Straßen und verzerrt sämtliche Bewegungen vor unseren Augen. Mitunter fühlt sich der Einstieg in La Cocina wie ein spätes Echo von Wong Kar-Wais rauschhaften Chungking Express an.

Das ist bei Weitem nicht der einzige Stil, auf den Ruizpalacios bei seinem mitreißenden Küchenepos zurückgreift. Aufwendige Plansequenzen, die an Alfonso Cuarón erinnern, gehören ebenso zu seiner Filmsprache wie das Spiel mit Farben und Seitenverhältnissen. Die meiste Zeit finden wir uns in engen Schwarz-Weiß-Bildern wieder. Ab und an reißt die klaustrophobische Küchenwelt auf und das Bild wird breiter.

Das Zentrum des Films ist The Grill, eine Touristenfalle, die zum Sinnbild von New York wird. Genauso wie die Stadt, die niemals schläft, kehrt in dem Restaurant niemals Ruhe ein. Das Feuer in der Küche darf nicht ausgehen, sonst bleibt die Welt stehen. Estela gesellt sich zu den illegal eingewanderten Arbeitskräften, die unsichtbar im Hintergrund den Laden am Laufen halten, während die Touris ihre Hummer verschlingen.

Zubereitet werden diese von Pedro (Raúl Briones Carmona), einem jungen Mann, der vor Energie übersprudelt und sich vom Küchenstress eine Aufenthaltsgenehmigung erhofft. Seine Träume gehen weiter. Er ist verliebt in Julia (Rooney Mara), eine der Kellnerinnen des Restaurants, und will sich mit ihr ein Leben aufbauen. Doch Pedro ist eine tickende Zeitbombe, die droht, jeden Augenblick hochzugehen.

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Uncut Gems trifft auf Birdman: La Cocina ist pures Stresskino und operiert am Herzen von Amerika

Ruizpalacios übersetzt Pedros innerliches Ticken in das nervenaufreibende Piepen einer Maschine, das jedes Mal ertönt, wenn eine Bestellung in der Küche eingeht. Ein kleiner, elektronischer Kasten gibt einen Takt vor, mit dem man als Normalsterbliche:r unmöglich mithalten kann. Für zusätzlichen Anspannung sorgt ein Diebstahl: Etwas mehr als 800 Dollar fehlen seit gestern in der Kasse. Alle stehen unter Verdacht.

Das hektische Treiben von The Bear hat Ruizpalacios absolut verinnerlicht. Auch mit dem Stresslevel von Filmen wie Uncut Gems und Birdman kann sich sein Werk mühelos messen. Ständig passiert eine mittelgroße Katastrophe. Und wenn wir uns einmal in der naiven Sicherheit wähnen, dass zumindest für einen kurzen Moment alles rundläuft, stellt sich heraus, dass die komplette Küche unter Wasser steht.

Von einem Ort des Genießens könnten wir kaum weiter entfernt sein. In La Cocina kämpft jede Figur ums Überleben. Mit einem kulinarischen Horror-Thriller à la The Menu, in dem sich ein Restaurantbesuch in ein gesellschaftliches Experiment mit tödlichen Folgen verwandelt, haben wir es zwar nicht zu tun. Ruizpalacios nutzt die Küche aber auch, um über den Zustand Amerikas zu verhandeln.

Mit jedem Piepen stirbt ein amerikanischer Traum, wird erstickt, erschlagen. Dennoch brutzelt das Fett in den Pfannen, Wasser kocht in den Töpfen und unzählige Messer bewegen sich flink über Schneideflächen. Als könne der eingegangene Bestellungs-Wahnsinn noch irgendwie gebändigt werden. Aber das kann er nicht. Das Geschäft läuft, bis es durch die schlimmstmögliche Eskalation komplett lahmgelegt wird.

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In La Cocina werden Träume im Minutentakt zerstört, doch es gibt einen grünen Hoffnungsschimmer

Mit dem Wissen um diesen dampfenden Albtraum möchte man eigentlich nie wieder ein Restaurant betreten. Ruizpalacios inszeniert eine Tour de Force durch die verborgenen Abgründe der Küche, die zum Spiegel einer ungleichen Welt wird. Niemand kann den ungerechten Regeln folgen, um zu leben – aber was für ein Leben? Für welche Träume, aus denen man nicht sofort beim nächsten Piepen herausgerissen wird?

Auf der Suche nach dem grünen Hoffnungsschimmer am Horizont hasten wir durch die labyrinthischen Gänge des Restaurantkomplexes, der bis ins Herz von New York zu führen scheint. Und dann, inmitten aller Rastlosigkeit, findet Ruizpalacios ein absolut magisches Bild, womöglich das magischste der gesamten Berlinale: Rooney Mara steht hinter einem Aquarium, das gerade mit frischen Hummern befüllt wird.

Unsanft werden die Tiere aus einem großen Kübel in das Behältnis geschüttet und gleiten langsam zu Boden. Als wären sie schwerelos. Für den Bruchteil einer Sekunde saugt die vor unseren Augen entstehende Märchenwelt auch Mara auf. Die Grenzen von Raum und Zeit scheinen hier aufgelöst. Alle Träume möglich. In La Cocina schlummert aber eine impulsive, verletzte Kraft, die diese Fantasie auf keinen Fall zulassen kann.

La Cocina läuft im Wettbewerb der 74. Internationalen Filmfestspiele Berlin. Ein deutscher Kinostart steht noch nicht fest.

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