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#Hinter ihm brennt das Schreckenshaus

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Hinter ihm brennt das Schreckenshaus

Wer eine Ausgabe der Grimmschen Märchen mit dem Märchen „Von dem Machandelboom“ eröffnet, der traut sich was. Denn der geradezu einlullende Anfang vom reichen Mann mit seiner schönen Frau, von gegenseitiger Liebe der Eheleute, all das auch noch angesiedelt in der beruhigenden historischen Ferne („das ist nun lange her, wohl an die zweitausend Jahre“), mündet schon bald in eine der finstersten Mordgeschichten der deutschen Literatur: Die schöne Frau wird schwanger, bekommt ihr Kind und stirbt buchstäblich vor Freude, der Mann heiratet wieder und wird Vater einer Tochter, die böse Stiefmutter aber bringt den Jungen um, als der den Kopf in eine Apfelkiste steckt („bratsch! schlug sie den Deckel zu, dass der Kopf flog und unter die roten Äpfel fiel“), dann lässt sie ihre Tocher Marlene glauben, den Jungen getötet zu haben, und verarbeitet den Leichnam zu einem Eintopf, um den Mord zu vertuschen. „Marlenchen aber stand dabei und weinte und weinte, und die Tränen fielen alle in den Topf, und sie brauchten kein Salz.“ Dem heimgekehrten Vater aber schmeckt das Gericht dann so gut, dass er niemandem etwas davon abgibt.

Tilman Spreckelsen

Solche Märchen haben zum bedenklichen Ruf der Sammlung der Brüder Grimm beigetragen, und der Berliner Künstler Henrik Schrat zählt im Nachwort zum ersten Band der von ihm illustrierten Edition auf, was in den Märchen „nach heutigen Vorstellungen nicht akzeptabel“ ist. Eingegriffen habe man in den Text aber nur – und behutsam –, wo es der heutigen Lesbarkeit diene. Wo die Märchensprache aber auf diese Weise als Dokument einer zweihundert Jahre alten Epoche begriffen wird, da nimmt sich der Illustrator, der die Abfolge der Texte für seine fünf geplanten Bände auch ganz neu und nach Themen wie „Liebe & Kampf“ oder „Tiere & Menschen“ arrangiert hat, sein Recht, als Künstler des 21.Jahrhunderts in Dialog mit dem Werk der Grimms zu treten – oder zumindest mit seinen Mitteln und Erfahrungen auf die Märchen zu reagieren. „Man muss zurücktreten vom Alltagslärm, aber ihn unbedingt im Ohr behalten“, beschreibt Schrat im Nachwort einleuchtend seinen Ansatz als Grimm-Illustrator. Zeitlosigkeit ist also gerade nicht das Ziel, stattdessen eine Ästhetik, die nicht nur im Stil, sondern auch in den Schauplätzen und den Figuren jederzeit erkennen lässt, dass Schrat unser Zeitgenosse ist, was er so weit treibt, dass er den Subskribenten seines entstehenden Werks verspricht: „Sie begleiten, beobachten und beeinflussen das Entstehen der Bücher.“ Was bis zu einem neuerlich bezahlten Cameo-Auftritt des Subskribenten geht.

Die goldenen Haare des Teufels

Im ersten Band, „Schneefall“ (oder thematisch: „Himmel & Hölle“), versammelt Schrat eine Reihe von Texten, die aufs Jenseits zielen, auf Religiöses (etwa viele der „Kinderlegenden“, die in der Originalsammlung üblicherweise den Anhang bilden) oder auf das Überschreiten der Grenze zu einer Sphäre, die unserer Welt entgegensteht – im „Teufel mit den drei goldenen Haaren“ mag man bei der Hölle an einen Technoclub denken, markante Berliner Ansichten irrlichtern in weiteren Illustrationen des Bandes, und „Der Schneider im Himmel“ ist, ausweislich des beigegebenen Porträts, niemand anders als Karl Lagerfeld. Das Verfremden des Realen geht hier gern in Richtung Groteske: Die Faszination des Teufels und anderer Unholde für Menschenfleisch findet seinen Ausdruck in einem doppelseitigen Bild einer „Dröner“-Bude, in der sich der übliche Spieß dreht. Der Angestellte bleibt im Dunkeln, ein Kunde mit Huf, Hörnern und Schweif kommt auf ihn zu, in der Hand einen Beutel. „Menschen“ steht links der Bude, „Fleisch“ rechts. Von anderen Kunden keine Spur.

Jacob und Wilhelm Grimm, Henrik Schrat: „Grimms Märchen“. Bd. 1: Schneefall. Textem Verlag, Hamburg 2020. 264 S., Abb., geb., 29,– €


Jacob und Wilhelm Grimm, Henrik Schrat: „Grimms Märchen“. Bd. 1: Schneefall. Textem Verlag, Hamburg 2020. 264 S., Abb., geb., 29,– €

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Bild: Textem Verlag

Sonderlich dezent kommen solche Inhalte nicht daher, sie sollen es auch gar nicht, und weil Schrat auf der anderen Seite in seinen feinen, oft geradezu behutsamen einfarbigen Bildern diese Gegenwart fast beiläufig darstellt, ergibt sich daraus ein Spannungsverhältnis, dass das Leserinteresse mühelos bis zur letzten Seite und – in der Erwartung kommender Bände – auch darüber hinaus wachhält. Was Armut bedeutet, zu Zeiten der Grimms und in der Gegenwart westlicher Metropolen wie Berlin, reflektieren diese Bilder mit einleuchtenden Ergebnissen, wobei das Gegenteil, der plötzliche Reichtum des Fischers (oder eher: der seiner Frau), verglichen mit der Armut unwirklich blass bleibt, was dem Text ja entspricht. Wohlstand hat in diesem Band oft etwas Suspektes, und im Grinsen des betuchten Teufels, der „die drei Handwerksburschen“ dazu benutzt, einen habgierigen Gastwirt endlich an den Galgen zu bringen, liegt hier soviel Gangsterschläue, dass sich seine Werkzeuge, die sich den Pakt mit ihm gut bezahlen lassen, an diesem Punkt der Geschichte wahrscheinlich doch unbehaglich gefühlt haben müssen – dem Märchentext, der davon nichts weiß, zum Trotz.

Denn Behaglichkeit liegt Schrats Märchenbildern sehr fern, und wenn er – wie vor gut hundert Jahren Otto Ubbelohde – zur Grimm-Illustration sein Material ganz in seiner Umgebung findet, dann sind für die Diskrepanz nicht nur Zeit und Raum verantwortlich. Sein Wille, nichts zu verklären, geht einher mit der Absicht, seinen Figuren die Autonomie zu belassen, wo immer es geht. Das filmreife Schlussbild im „Machandelboom“ ist ein Beispiel dafür. Wer so wie das Kind die Szenerie verlässt, hinter sich das explodierende Haus des Schreckens, um den muss man sich nicht sorgen.

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