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#In der Gewalt der Wellen

In der Gewalt der Wellen

Filmaufzeichnungen geben einen vollkommen anderen Eindruck von einem Tanzstück, als Zuschauer ihn während einer Vorstellung gewinnen können. Erst die Kamera erlaubt dem Publikum eine im Theater nie gekannte räumliche Nähe zu den Tänzern. Kameraleute, Regisseure und Choreographen haben in den letzten Jahren die Scheu vor Nahaufnahmen verloren. Durch sie wird es zwar schwieriger, die choreographischen Raummuster wahrzunehmen, doch steht dem der Gewinn einer ungeahnten Intimität gegenüber, das Gefühl, einbezogen in die Bühnenhandlung zu sein, wo man sonst, doppelt getrennt durch großen Abstand und Bildschirm, seine ganze Konzentration braucht, um nicht am Ende ungerührt und distanziert zu bleiben.

Die Möglichkeiten der audiovisuellen Dokumentation und Digitalisierung sind auch für den Tanz im Lockdown ein Glücksfall. Wie jetzt die Fernsehausstrahlung eines neuen Ballettabends der Pariser Oper demonstrierte, der unter dem Titel „Choreographieren heute“ vier Uraufführungen versammelte, sind es die Erfahrungen der Choreographen im Metier Film, die sich in phantastischen Bildern niederschlagen.

Elektronisches Framing

Das gilt in besonderer Weise für die Arbeiten von zwei der Beteiligten, Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet. Hatte Cherkaoui etwa 2018 Beyoncé und ihrem Mann Jay-Z geholfen, sich für das im Louvre gedrehte Video zu ihrem Song „Apeshit“ tänzerisch zu inszenieren, so choreographierte Damien Jalet 2019 den Netflix-Musikfilm von Paul Thomas Anderson, den Radiohead-Sänger Thom Yorke zu seinem Soloalbum „Anima“ produzierte und sich dabei als exzentrischer, aber fabelhafter Tänzer zeigte.

An ihren neuen Werken für die Pariser Tänzer lässt sich auch ablesen, wie genau die schauspielerischen Ausdrucksmittel des Ensembles inzwischen auf die Arbeit mit der Kamera abgestimmt sind. Die jetzige Generation von Tänzern und Choreographen ist mit diesem Medium groß geworden und prädestiniert dafür, den Tanz im Film durchzusetzen und zu mehr als einem Nischenprogramm für die Mitternachtssendeplätze von Arte zu machen. Damien Jalet und Sidi Larbi Cherkaoui haben sich das Tanzen selbst beigebracht, indem sie vor dem Fernseher Musikvideos mittanzten. Kein Wunder, dass sie das elektronische Framing ihrer Bewegungen lieben.

Arme, hilflose Wesen

Dass sich Tänzer dem Blick der Kamera, den Blicken der anderen um sie herum aussetzen, aber auch wie wir alle der schwierigen Pandemielage ausgeliefert sind, das alles lässt sich mit Cherkaouis Stücktitel „Exposure“ mühelos assoziieren. Wer die vom Haus Chanel elegant eingekleideten Tänzer sieht, kann sich eines Gefühls der Beklemmung nicht erwehren. Zwischen den vergoldeten barocken Logen liegt das blendend weiße Quadrat des Tanzbodens. Das Ensemble bewegt sich wie in einem staub- und keimfreien Studio, gerahmt von den Zeugnissen einer einschüchternden Vergangenheit. Die Tanzfläche ist über den leeren, geschlossenen Orchestergraben gebaut. Getanzt wird in „Exposure“ vor zwei wandhohen weißen Stellwänden. Perfekt natürlich geschminkt, tanzen die Frauen in schwarzen Strumpfhosen, deren Fußsohlen verstärkt wurden, und schwarzen engen Trikots oder in weißen Seidenkleidern.

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Das zentrale Paar tanzt mit Masken, denn es war kurz vor den Aufnahmen aus der Quarantäne zurückgekehrt. Eine Kamera hängt im Bühnenhimmel und bietet immer wieder die Vogelperspektive auf das Stück: arme, hilflose Wesen. Wie fühlt es sich an, jederzeit und aus allen Winkeln betrachtet zu werden, welchem Perfektionszwang, welchem Druck der Umwelt sind wir ausgesetzt?

Gut für Naturassoziationen

Andererseits, und das unterstreicht Cherkaoui, indem er einen Tänzer mit einer Kamera ins Geschehen schickt und die Bilder live projiziert, sind es aufsehenerregend schöne Bilder, die so entstehen. An die Wand geworfene Zitate der Künstlerin Nan Goldin betonen, das Fotografieren sei ein Akt der Zärtlichkeit und der Nähe. Subtil schöpft das Stück diese Ambivalenzen aus, manchmal allerdings wird diese Energie fast zu schön, um wahr zu sein. Traumverloren erklingt dazu der elegische, elektronisch begleitete Gesang von DJ und Komponist Woodkid.

Seine Auftragsmusik für Damien Jalets „Wellenbrecher“ spielt der japanische Komponist und Pianist Koki Nakano selbst ein. Ein grauer, an Schwarzweißaufnahmen des Meeresbodens erinnernder Tanzteppich und fließende, graugestreifte Unisex-Kostüme des französischen Streetart-Künstlers und Fotografen JR sind zugleich abstrakt und zusammen mit dem gleißend wie Sonnenstrahlen zwischen Wolken hervorbrechenden Licht auch gut für Naturassoziationen.

Aufgehalten von Lizenzen

Die Choreographie für neun Frauen und Männer ist viel rauher, geerdeter, kraftvoller und ungeschönter als Cherkaouis Stück. Viel Bewegung kommt auf Knien getanzt aus den weit schwingenden Oberkörpern. Mal sind es die Tänzer, die Wellen zu brechen scheinen, sich gegen das Untergehen, Ertrinken, das Sterben wehren, dann wieder sind sie die Welle, ein gemeinsamer Körper, eine Naturgewalt. Am Ende liegen sie in der Form eines Zodiaks auf dem Boden, gesunken mit einem eigentlich unsinkbaren Wellenbrecherboot. Verlieren wir eines Tages den Kampf gegen die Naturgewalten?

Diese beiden eindringlich gegenwartsbezogen und tief reflektierten Stücke und auch die ergänzenden Arbeiten von Tess Voelker und Mehdi Kerkouche stehen noch sechs Monate auf der Website der Pariser Oper. Produziert hat den Film allerdings der Fernsehsender France 5, und auf dessen Seite wird man in Frankreich weitergeleitet, um den Abend gratis zu sehen. Aber eben nur in Frankreich! Das nennt man Geoblocking: Der Tanz, die internationalste künstlerische Sprache der Welt, aufgehalten von Lizenzen. Die Inhalte anderer Ensembles wie etwa des Royal Ballet in Covent Garden oder des Bayerischen Staatsballetts sind Eigenproduktionen und manchmal nur gegen Gebühr zu sehen, aber von überall. Das Ballett der Pariser Oper sieht derzeit aus Deutschland nur, wer zu kriminellen Handlungen willens und in der Lage ist. Ein Unding.

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