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#Interview: Chef der Bundesagentur für Arbeit: „Ich gehe ohne Frust“

„Interview: Chef der Bundesagentur für Arbeit: „Ich gehe ohne Frust““




Detlef Scheele ist nicht mehr lange Chef der Bundesagentur für Arbeit. Die ehemalige SPD-Politikerin Andrea Nahles wird seine Nachfolgerin. Was sich der BA-Vorsitzende jetzt noch wünscht.

Herr Scheele, wenn Russland uns den Gashahn zudreht, ist dann das deutsche Job-Wunder vorbei?

Detlef Scheele: Dann ist der Arbeitsmarkt vermutlich nicht mehr so robust wie heute. Wir sollten es also lieber nicht von uns aus ausprobieren, auf russisches Gas zu verzichten. Nur ein Beispiel: Wenn man in der Glasindustrie einen Ofen runterfahren muss, weil es kein Gas mehr gibt, ist der Ofen kaputt, kann also nicht mehr hochgefahren werden. Ein solches Gas-Embargo würde insbesondere die chemische Industrie als Grundstoffindustrie hart treffen.

Und was heißt das für unsere gesamte Volkswirtschaft?

Scheele: Am Ende könnte es zu einer systemischen Krise werden, die zu Entlassungen führen könnte, weil Firmen den Glauben verloren haben, dass die Krise nur vorübergehender Natur ist. Und es ist dann für entlassene Menschen schwierig, wieder einen neuen Job zu finden. Wir sollten also vermeiden, zu schnell das russische Gas abzudrehen.

Doch Krise folgt auf Krise, und der deutsche Arbeitsmarkt ist bislang robuster denn je, es gibt sogar einen Rekord an offenen Stellen. Wie passt das zusammen?

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Scheele: Dass sich der Arbeitsmarkt in einer derart guten Verfassung befindet, liegt auch daran, dass es in den Krisen nicht zu Entlassungen gekommen ist und wir die Auswirkungen der Krisen mit Kurzarbeit abfedern konnten. Menschen, die sich in Kurzarbeit befinden, sind weiter beschäftigt. Hinzu kommt, dass Branchen, die in einer solchen Pandemie üblicherweise entlassen hätten, also die Gastronomie und Hotellerie, auch auf Kurzarbeit zurückgegriffen haben. Und diese Branchen schauen gerade optimistisch auf den Sommer und werden das Arbeitsmarktgeschehen weiter beleben.

Doch in der Industrie rumpelt es.

Scheele: Das verarbeitende Gewerbe leidet unter Materialengpässen und unterbrochenen Lieferketten. Doch auch diese Unternehmen greifen auf Kurzarbeit zurück. Kurzarbeit stabilisiert den Arbeitsmarkt. Das ist das Geheimnis.

Doch auch Sie sagen, Kurzarbeit dürfe kein Dauerzustand werden.

Scheele: Fest steht: Die Vermutung, man würde mit Kurzarbeit Zombie-Firmen künstlich am Leben halten, die sonst keine Überlebenschance hätten, hat sich bisher nicht bewahrheitet. Kurzarbeit für konjunkturelle, temporäre Ausfälle hat sich bewährt und muss erhalten bleiben. Aber der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit und die Bundesregierung müssen sich jetzt gemeinsam Gedanken machen, wie man eine alternative Regelung für lang andauernde Krisen wie einer Pandemie zu einem kollektiven Förderinstrument weiterentwickelt.

Was fordern Sie konkret?

Scheele: Kurzarbeitergeld erhalten die einzelnen Beschäftigten über die Betriebe, für die sie arbeiten. Wenn das Unternehmen die Kurzarbeit beendet, folgt eine sogenannte Abschlussprüfung. Das führt dazu, dass wir noch 1,1 Millionen Kurzarbeitsabrechnungen bearbeiten müssen, die wir erst Anfang 2024 erledigt haben werden. Das ist ein Indiz, dass das aktuelle Instrument der Kurzarbeit nicht für solch tiefgreifende, lang anhaltende Krisen für ganze Belegschaften in nahezu allen Branchen geeignet ist.

Wie stellen Sie sich die Reform der Kurzarbeitsregelung dann vor?

Scheele: Wir brauchen in einer solchen Krise wie der Pandemie eine Regelung, welche die Bundesagentur für Arbeit und die Personalabteilungen der Firmen nicht jeweils einzeln für jeden Beschäftigten abrechnen müssen, was ein großer bürokratischer Aufwand ist. Bisher bekommen wir als Arbeitsverwaltung für jeden Beschäftigten, der sich in Kurzarbeit befindet, eine einzelne Liste vom Arbeitgeber übersandt, elektronisch oder in Papierform. Da sind die Tage und Stunden der Kurzarbeit vermerkt. Das ist kein massentaugliches Verfahren. Denn unter den jetzigen Bedingungen warten Arbeitgeber auf ihre Abrechnungen. Das steht in ihren Bilanzen.

Was muss jetzt also passieren?

Scheele: Eine Idee für die Zukunft wäre ein Verfahren, das nicht auf den einzelnen Beschäftigten, sondern die Betriebe abzielt. Hier sollten dann bestimmte Kriterien für einen Betrieb gelten, um Kurzarbeit nutzen zu können. Darüber wollten wir zwischen Bundesagentur und Bundesregierung nachdenken. Dann kam der Krieg in der Ukraine dazu.

Warum wird Kurzarbeit nicht stärker digital berechnet?

Scheele: Das Verfahren „Kurzarbeitergeld elektronisch abrechnen“ wenden derzeit nur drei bis vier Prozent der Arbeitgeber an.

Warum sind das so wenige Arbeitgeber?

Scheele: Die entsprechende Personal-Anwendungssoftware ist noch nicht zertifiziert. Wir stehen also noch ganz am Anfang.

Trotz aller Bürokratie hat die Kurzarbeit Massenarbeitslosigkeit verhindert. Bleibt das so? Sind die Zeiten von drei, vier, ja in der Spitze sogar fünf Millionen Arbeitslosen in Deutschland auf lange Zeit gebannt?

Scheele: Massenarbeitslosigkeit werden wir nicht sehen. Und das hat viele Gründe: Hier ist vor allem die demografische Entwicklung zu nennen, also die Tatsache, dass immer weniger junge Menschen für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und viele ältere in Rente gehen. Zudem ist der Arbeitsmarkt flexibler geworden.

Wie zeigt sich das?

Scheele: Beschäftigte wechseln leichter als früher den Job. Und Arbeitgeber stellen schneller als früher neue Arbeitskräfte ein. Und dank Fortbildung und Beratung finden Menschen nach Phasen der Arbeitslosigkeit wieder schneller eine neue Tätigkeit.

Und was ist mit der demografischen Falle?

Scheele: Die demografische Entwicklung hat es in sich: Bis 2040 werden rund neun Millionen Arbeitskräfte mehr den Arbeitsmarkt verlassen als eintreten. Das aufzuholen ist sehr schwierig. Um das annähernd auszugleichen, bräuchten wir in Deutschland laut dem IAB-Institut eine jährliche Nettozuwanderung von rund 400.000 Menschen. Im vergangenen Jahr dürften wir deutlich darunter liegen. Laut Statistischem Bundesamt lag die Nettozuwanderung im Jahr 2020 bei 220.000. Wir brauchen also mehr Zuwanderung. Nur so können wir den Arbeits- und Fachkräftemangel ausgleichen.

Und wie nutzen wir zunächst das heimische Arbeitskräftepotenzial besser aus?

Scheele: Indem wir uns anstrengen, Arbeitslose zu qualifizieren und mehr Frauen für das Erwerbsleben zu gewinnen. Dazu brauchen wir ausreichend Kita-Plätze. Und wir müssen Arbeitnehmer in Deutschland möglichst bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter arbeiten lassen und nicht vorher in Altersteilzeit schicken. Altersteilzeit ist volkswirtschaftlich nicht positiv, auch wenn es aus Sicht von Firmen nachvollziehbar wirkt. Wir müssen ältere Beschäftigte auf alle Fälle besser qualifizieren, sodass sie bei der Digitalisierung und Dekarbonisierung mithalten können. Keiner darf rausfallen. Doch es hapert in Deutschland an der Schwelle „Von Arbeit in Arbeit.“

Was meinen Sie damit?

Scheele: Wenn etwa ein Beschäftigter mit 60 Jahren in der Automobilbranche entlassen wird, müssen wir dafür sorgen, dass er einen neuen Job findet und nicht in Ruhestand geht. Unsere Agenturen können hier dank des Qualifizierungschancengesetzes in den Regionen als Moderatoren auftreten. Wir müssen also rechtzeitig schauen, wie man von einem Unternehmen ins andere kommt. Das ist zum Teil schwierig, wenn Beschäftigte enorme Lohnabschläge hinnehmen müssen, weil sie von der Industrie zu weniger gut bezahlten Arbeitsplätzen wechseln. Wir sollten die Menschen nicht einfach in Rente gehen lassen, sondern mit ihnen gemeinsam einen neuen Arbeitsplatz suchen. Dazu bedarf es eines Mentalitätswechsels.

Lindert denn die Zuwanderung von hunderttausenden Ukrainerinnen und Ukrainern den sich verschärfenden Arbeitskräftemangel?

Scheele: Derzeit kommen täglich rund 2000 Ukrainerinnen und Ukrainer zu uns – mit rückläufiger Tendenz. Die Menschen aus der Ukraine lösen nicht das demografische Problem Deutschlands. Darauf kann man nicht setzen. Bei uns befinden sich derzeit etwa 600.000 Geflüchtete aus der Ukraine, darunter sind rund 40 Prozent Kinder. Etwa 300.000 dieser Menschen könnten sich womöglich für einen Arbeitsplatz interessieren, aber das ist nicht das, worüber sie als Erstes sprechen möchten.

Worüber wollen sie zunächst sprechen?

Scheele: Wir als Arbeitsagentur betreiben eine Hotline für die Menschen aus der Ukraine, die zu uns geflohen sind. Hier beraten Beschäftigte von uns, die Ukrainisch sprechen, freiwillig ihre Landsleute. In den Gesprächen geht es eher um traumatische Erlebnisse, wenn die Frau mit ihren Kindern bei uns ist, während ihr Mann in der Ukraine blieb. Die Menschen müssen erst einmal bei uns ankommen, sich medizinisch versorgen lassen und eine Unterkunft finden. Und sicher wollen viele in ihr Land zurückgehen, wenn das möglich ist. Viele der Menschen denken noch nicht an Arbeit.

Und die doch an Arbeit denken?

Scheele: Für die haben Wirtschaftsverbände einen Gesprächsleitfaden entwickelt, den wir nutzen, um im Beratungsgespräch herauszufinden, welche berufliche Qualifikation diese Ukrainerinnen und Ukrainer haben. Wir bemühen uns dann, die Menschen möglichst nahe in ihrem Beruf zu vermitteln. Außer ein Geflüchteter will als Helfer möglichst schnell Geld verdienen. Auf alle Fälle müssen sich die Bürgerinnen und Bürger hierzulande keine Sorgen machen, dass ihnen Menschen aus der Ukraine die Arbeit wegnehmen. Wir haben schließlich über 800.000 offene Arbeitsplätze in Deutschland.

Wie lassen sich die Geflüchteten in unseren Arbeitsmarkt integrieren?

Scheele: Zunächst brauchen wir für sie ausreichend Sprachkurse und für die vielen Mütter Kita-Plätze für ihre Kinder.

Kita-Plätze sind wohl der Schlüssel zur Integration gerade der Ukrainerinnen.

Scheele: Kita-Plätze sind wichtig. Als 2013 der Rechtsanspruch auf einen Kita-Platz in Deutschland eingeführt wurde, war ich Jugendsenator in Hamburg. Meine Erfahrung ist: Kita-Plätze stampft man nur begrenzt aus dem Boden. Denn man braucht ausreichend Räume und Erzieherinnen sowie Erzieher, die ohnehin knapp sind. Doch die Kommunen strengen sich enorm an, zusätzliche Kita-Plätze zu schaffen. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass die Geflüchteten ungleich über das Land verteilt sind und sich vor allem in größeren Städten aufhalten.

Doch es gibt auch ungelöste Probleme am deutschen Arbeitsmarkt wie die nach wie vor zu hohe Langzeitarbeitslosigkeit. 2019 waren wir hier schon auf einem guten Weg mit unter 700.000 betroffenen Menschen. Doch jetzt sind wir wieder bei 934.000. Sie zeigten sich frustriert. Was muss Ihre Nachfolgerin Andrea Nahles hier beherzigen?

Scheele: Bis zum Ausbruch der Pandemie hatten wir große Erfolge bei der Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit verzeichnet. Bei dem Thema gibt es eine klare Erkenntnis: Langzeitarbeitslosigkeit darf man erst gar nicht entstehen lassen, sondern muss sie präventiv bekämpfen. Man muss diese Menschen besser qualifizieren, was von der Bundesregierung auch geplant ist. So können aus Langzeitarbeitslosen Fachkräfte werden.

Aber das braucht Zeit.

Scheele: Es wird dauern, auch bei Frau Nahles. Während meiner Amtszeit hat das auch gedauert. Dann hat die Pandemie abrupt unsere Erfolge beendet. Das war enttäuschend. Was das Thema Langzeitarbeitslosigkeit betrifft, passt zwischen Frau Nahles und mir kein Blatt Papier. Es wäre toll, wenn wir es wieder schaffen würden, weniger als 700.000 Langzeitarbeitslose zu haben.

Nun neigt sich Ihre Amtszeit bei der Bundesagentur dem Ende entgegen. Andrea Nahles wird das Amt am 1. August übernehmen. Wie fällt Ihre Bilanz aus?

Scheele: Der größte Erfolg ist sicher, dass die Arbeitsagenturen, Jobcenter und Kommunen sehr gut zusammenarbeiten und wir gemeinsam das Teilhabechancengesetz eingeführt haben. Das hilft den Betroffenen. Gut gelungen ist auch das Qualifizierungschancengesetz, mit dem wir Menschen, die von der Transformation der Wirtschaft, also von der Digitalisierung und Dekarbonisierung betroffen sind, präventiv helfen können. Und ich freue mich auch, dass wir die Berufsberatung aus den Agenturen deutlich stärker in die Schulen verlagert haben. So gehe ich ohne Frust, auch wenn wir pandemiebedingt wieder mehr Langzeitarbeitslose haben. Das kann man aber nicht meinen Kolleginnen und Kollegen vorwerfen. Wir haben in dieser Zeit vielmehr alle gut zusammengestanden. Wenn schon Pandemie, dann lieber in Deutschland als anderswo.

Welche Pläne haben Sie jetzt mit 65 Jahren als Rentner? Streben Sie als früherer SPD-Politiker zurück in die Politik?

Scheele: Mein Plan ist klar: Kalender-Funktion bei meinem Smartphone ausschalten, dann kommt erst einmal der Sommer und dann muss ich im Herbst mal schauen, ob ich ans Telefon gehe, wenn jemand etwas von mir will. Ich strebe keine Rückkehr in die Politik an.

Auch nicht, wenn Ihr Freund, Kanzler Olaf Scholz, anruft?

Scheele: Jetzt gehören mal Jüngere ran. Es gibt keinen Fortschritt, wenn immer die gleichen weiterarbeiten. Als ich so 45 Jahre alt war, habe ich mich über die 67-Jährigen geärgert, die immer noch mitreden wollten. Zur Innovation gehört ein Generationswechsel. Ich muss es nicht gut finden, was die Jungen machen, aber sie dürfen es. Man kann sich als älterer Mensch nicht immer neu erfinden. Das behaupten ältere Menschen, sie können es aber nicht. Auch ich habe die Weisheit nicht mit Löffeln gegessen.

Detlef Scheele, 65, ist seit 2017 Vorsitzender des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit. Von 2011 bis 2015 war er Senator für Arbeit, Soziales, Familie und Integration in Hamburg. Zuvor konnte der SPD-Mann von 2008 bis 2009 bundespolitische Erfahrungen als Staatssekretär im Arbeitsministerium sammeln. Scheele ist verheiratet und hat drei Kinder.

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