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#Katja Petrowskaja über getötete Schriftstellerin Victoria Amelina

Ihr Tod hat uns alle wie ein Abpraller getroffen. Es gab genügend schwere Wochen, aber diese war besonders. Menschen, die lange Zeit nicht kommuniziert hatten, schrieben einander: „Halte durch“ – und es war klar, dass es um Vika geht, Victoria Amelina. Nun sind schon fast zwei Wochen vergangen, seit die russische Rakete sie tötete, zusammen mit zwölf anderen Zivilisten in einer Pizzeria in Kramatorsk, aber der Strom der Erinnerungen hört nicht auf. Schriftsteller, ihre Freunde und Bekannten – buchstäblich jeder schreibt.

Schreiend, traurig, ohnmächtig, eine erstaunliche Menge an Liebeserklär­ungen, als wären alle diese Texte Beiträge zur Dokumentation russischer Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung, Augenzeugenberichte. Tanja Maljar­tschuk nennt Vika einfach „Engel“ und fragt, ob sie zu einer Nachrufautorin geworden sei. Mein kleiner Text darf mir redundant erscheinen, aber nicht die Trauer selbst. Sie ist mit der magischen Illusion vermischt, dass wir Vika noch kurz auf dieser Seite des Lebens halten können, mit jedem unserer Texte.

Verschlossen, entschlossen, groß wie der Mond

Ich fuhr mit dem Zug durch Deutschland, als ich von ihrem Tod las. In ukra­inischen Netzwerken gab es kaum eine Nachricht ohne ihr Gesicht – verschlossen, entschlossen, groß wie der Mond, den ganzen Horizont und alle Gedanken erobernd. Ich schaute nach draußen und sah immer wieder ihr Gesicht, umrahmt von Strohhaaren, als wäre es zu einem Teil der Landschaft geworden. Ich musste fremden Menschen im Zug erklären, warum ich weine, und ich sagte, dass ich Ukrainerin sei, als wäre das ausreichend, und vielleicht ist das auch so. Dann habe ich von Vika erzählt, viel mehr, als ich hier schreiben kann.

Gerade eben noch war sie in Kiew auf der Buchmesse „Arsenal“, hatte mit kolumbianischen Autoren diskutiert, hatte das Tagebuch des von Russen getöteten Kinderbuchautors Wolodymyr Wakulenko vorgestellt. Sie selbst hat es dort aus der Erde ausgegraben, wo der Autor es versteckt hatte, als die Russen kamen. Wakulenko wurde im Massengrab von Isjum gefunden. Vika hat sein Buch herausgegeben, hat sich für ihn eingesetzt wie für viele andere. Sie hatte Pläne gemacht: ihr neues Buch „War and Justice Diary: Looking at Women Looking at War“, ihr Literaturfestival, Reisen mit ihrem Sohn. Jene Frau, die Verbrechen an Frauen dokumentierte, fiel ihnen nun selbst zum Opfer.

Zwischen Schrei und Schweigen

Ich glaube, dass ich in meinem ganzen Leben weniger häufig ein Madonnenbild gesehen habe als das Gesicht von Vika in den vergangenen Wochen. Oft sagte sie selbst, dass man als Schreibende zwischen Schrei und Schweigen lebe. Sie hat vor dem Krieg zwei Romane geschrieben. Der erste war „Das November-Syndrom oder Homo compatiens“ (2014) über einen Mann, der gegen seine Empathie ankämpft. Victoria hat aus diesem Roman heraus Empathie zu ihrer besonderen Triebkraft entwickelt – Empathie als literarisches Mittel und als Mittel zum Handeln. Sie ist in Lemberg geboren, ihre Familie stammt aus dem Osten des Landes, und sie suchte stets nach Wegen der Verständigung. So muss in ihrem „Haus für Dom“ (2017) ein Hund die tragische Geschichte des Landes erzählen, da die Menschen schweigen.

Es geschah vor unseren Augen: Wir haben die Geburt einer Dichterin gesehen, vor dem Krieg hat sie keine Lyrik geschrieben. Das Gedicht, das „Keine Dichtung“ heißt, offenbart den Moment: „Die Realität des Krieges / verschlingt die Satzzeichen / die fortlaufende Geschichte / die Zusammenhänge / verschlingt sie / als hätte ein Geschoss / die Sprache getroffen / Gesplitterte Sprache / klingt nach Dichtung.“

Auf diesem Foto ist Victoria etwas entfernt, als wäre sie schon einige Schritte von uns zurückgetreten. Wir sehen sie in Nju-Jork, einem Städtchen zwischen Donezk und Bachmut, das von deutschen Mennoniten im 19. Jahrhundert gegründet wurde, wo sie ihr „New York Literatur Festival” kurz vor dem Krieg ins Leben gerufen hatte. Sie sitzt vor einer beschossenen Bibliothek, dort hat sie vor Kurzem noch Kindern aus ihren Büchern vorgelesen. Ich schaue auf die Einschusslöcher in der Tür, auf das löchrige Ornament – sie ist noch nicht getroffen worden –, und ich kann ihren Tod immer noch nicht verkraften.

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