#Kinder mit großen blauen Schwingen
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„Kinder mit großen blauen Schwingen“
Am 1. Mai 1864 öffnet der jährliche Salon der Malerei im Louvre. Edouard Manet hat zwei Bilder eingereicht. Beide handeln vom Tod. Der „Vorfall bei einem Stierkampf“ bekommt so schlechte Kritiken, dass Manet die obere Hälfte mit dem Stier in der Arena später wegschneidet; nur der tote Torero, von dem das heutige Gemälde den Titel trägt, bleibt.
Das zweite Bild teilt die Betrachter in zwei Lager. Es zeigt den toten Christus zwischen zwei Engeln, in der klassischen, halb aufrechten Pose, in der Bellini, Tintoretto, Palma il Giovane und viele andere die Szene gemalt haben, und doch ganz anders.
Manets Christus ist eine Wasserleiche aus der gerade eingeweihten Pariser Morgue, ein muskulöser, bleicher Körper mit schmutzigen Händen und leeren Augen. Und seine Engel sind Modelle, Phänotypen, deren Köpfe ohne viel Federlesens auf die mit großen Pinselstrichen skizzierten Kleider unter den wie angeklebt wirkenden Engelsflügeln montiert sind. Der rechte, ein Hermaphrodit wie aus dem „Tod in Venedig“, schaut mit gleichgültigem Blick an Jesus vorbei ins Nichts. Aber gerade weil der Maler die Künstlichkeit der Szene betont, ist sie so real und bedrängend. Sie zeigt den Erlöser unerlöst, als Relikt unter Requisiten. Sie badet in abgründiger Schönheit wie die „Bar in den Folies-Bergère“, Manets künstlerisches Vermächtnis, in dem das Auge auch nach hundertvierzig Jahren keinen Halt findet.
Zu Manets hundertstem Todestag
Im Mai 1983, nach nächtlicher Autofahrt im VW Käfer über Frankfurt, Saarbrücken und Châlons, ist Manets Bild die Offenbarung, die es für das Publikum im Salon von 1864 nicht sein konnte. Und nicht nur dieses Bild. Für die Ausstellung im Grand Palais zum hundertsten Todestag des Malers sind sie alle gekommen, aus New York, aus Washington, Chicago, Rhode Island, London, Oxford, Madrid, München, Bremen, Berlin und dem Musée d’Orsay: das „Frühstück im Grünen“, die „Olympia“, die „Dame mit Papagei“, der „Pfeifer“, der „Balkon“, das „Rennen in Longchamps“, die „Musik in den Tuilerien“, die Illustrationen zu Poe, die Porträts von Baudelaire, Zola und Berthe Morisot.
Es ist die Unsterblichkeit als Ready-made, die größte aller Hommagen, und Werner Spies beginnt seine Besprechung in dieser Zeitung mit zwei Wörtern: „Ein Ausstellungswunder.“ Noch nach fast vierzig Jahren strahlt der zehn Pfund schwere Katalog im Licht der Erinnerung, ziehen die Bilder der Ausstellungsräume vor dem Leser vorbei, der die vom brüchigen Einband sich lösenden Seiten umblättert, voll ungläubigem Staunen darüber, dass dies alles einmal zusammen zu sehen war.
Aber das Christusbild aus dem Metropolitan Museum of Art offenbart noch mehr, viel mehr, als der Germanistikstudent von damals begreifen konnte. Es zeigt, wie tief Manets Kunst aus dem Brunnen der Tradition schöpft, bis hin zu Caravaggio, dessen tote Maria gleichfalls den aufgedunsenen Leib einer Ertrunkenen hat, und bis zu den Faltenwürfen und abstrakten Räumen von Velázquez und Zurbarán.
Es ist eben nicht, wie man damals mit Adorno meinte, die Negation aus Prinzip, die am Anfang der ästhetischen Moderne steht, sondern die Wiederholung, die Neuinszenierung, der Widerhall, die Replik. Erst in ihr wird sichtbar, was „nicht mehr geht“, was unwahr geworden ist an den Klassikern. Manets Gemälde verrät es in schockierender Deutlichkeit, und Zola, der Freund des Malers, hat seine Botschaft als Erster begriffen: „Man sagt, dass dieser Christus kein Christus ist, und ich gebe zu, das kann sein; für mich ist es ein Kadaver, in vollem Licht gemalt, wahrhaftig und kraftvoll; und ich liebe selbst die Engel im Hintergrund, diese Kinder mit großen blauen Schwingen, die eine so süße und elegante Fremdheit besitzen.“
Denn auch das ist ein Wesenszug der Moderne: Sie tötet die klassische Schönheit nicht. Sie stellt sie nur anders aus. Manets Christusbild, damals in Paris, war ein Appell, sie in immer neuen Formen zu suchen.
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