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#Warum wir scheitern, die Zukunft zu vermessen

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Die Vergangenheit informiert uns nicht mehr hinreichend über die Gegenwart. Das liegt auch an ihrer institutionalisierten Unruhe. Nicht einmal das, was funktioniert, ist vor Reformen sicher.

Vor einiger Zeit diskutierten wir über das Älterwerden. Eine klagte: „Jetzt bin ich Mitte fünfzig, stellt euch das mal vor, in zehn Jahren bin ich vielleicht schon tot.“ Lakonische Antwort des katholischen Freundes am Tisch: „Vielleicht schon heute Abend.“ Wer sich dazu bewegen lässt, über die Zukunft der Gesellschaft zu schreiben, muss diese trockene Bemerkung im Sinn behalten. Wir kennen die Zukunft nicht, weder die eigene noch die gesellschaftliche. Die Desaster der Zukunftsforscher, die das Gegenteil behaupten, werden nur nicht bilanziert. Irgendeiner von ihnen hat immer etwas vorhergesehen, weil den ganzen Tag haltlos zu reden stets den einen oder anderen Treffer mit sich bringt. Dennoch wissen wir nicht, wann die Zukunft beginnt oder eine Zukunft endet, vielleicht schon heute Abend.

Niemand hat den elften September vorhergesehen und niemand den siebten Oktober oder Corona, niemand sagte uns vor dreißig Jahren eine Gegenwart mit Tiktok voraus. Zumindest in der SPD sowie der Regierung Merkel wollte sich bis zuletzt niemand einen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine vorstellen, und Rolf Mützenich maßregelte noch 2021 Robert Habeck für dessen Plädoyer, der Ukraine Defensivwaffen zu liefern. Nicht einmal der Fall der Mauer wurde auch nur in dem Jahr, in dem er stattfand, prognostiziert. In der bedeutendsten Gesellschaftstheorie unserer Zeit, derjenigen Niklas Luhmanns, spielen die alltäglichen Auswirkungen der Digitalität keine Rolle, einfach weil die Theorie 1997 abgeschlossen war, zehn Jahre bevor das iPhone kam, aber vier Jahre nachdem der erste Webbrowser kostenlos verfügbar war.

Das Ausmaß der Irrtümer ist erheblich

Die Natur mag keine Sprünge machen, die Gesellschaft macht sie schon. Darum überrascht sie uns in einem fort, vor allem überrascht sie die Wissenschaftler, die sich auf Vorhersagen verlegt haben. Das Ausmaß, in dem sich Wirtschaftsprognosen irren, ist erheblich und fällt nur nicht auf, weil wir bei sehr kleinen Zahlen sehr tolerant sind, obwohl der Unterschied zwischen einem und zwei Prozent Wirtschaftswachstum einem Irrtum von hundert Prozent entspricht. Das wäre etwa so, als tippe jemand auf den 1. FC St. Pauli als Meister der kommenden Saison. Und doch wurde 1998 der 1. FC Kaiserslautern deutscher Meister. Solange es ertragreiche Wettbüros gibt, spricht viel dafür, dass die Zukunftsforschung dort nicht viel ausrichtet.

Wir sprechen darum von einer offenen Zukunft und können uns Rückschlüsse auf die Gesellschaft erlauben, die durch solche Offenheit und solche Überraschungen gekennzeichnet ist. Gemeint ist zunächst die Unwahrscheinlichkeit, dass hergebrachte Sachverhalte einfach in die Zukunft tradiert werden. Die Jugendlichen beispielsweise ergreifen nicht mehr verlässlich die Berufe ihrer Eltern, und irgendwann lehrt die Tochter des Metzgers, der noch barfuß zur Schule ging, Politische Ökonomie an der London School of Economics. „Durchschnittlich nicht!“, rufen Soziologen zu Recht dazwischen, denn tatsächlich sind die Wahrscheinlichkeiten dafür ungleich verteilt. Doch niemand lebt ein durchschnittliches Leben, niemand kann sich bloß von Wahrscheinlichkeiten durch sein Leben tragen lassen. Die Statistik mag uns nachträglich (!) Hinweise auf die Zukunftschancen großer Merkmalsgruppen geben, aber ob die Berufe, an die wir bei einem Bildungsaufstieg denken, noch existieren, wenn er an der Zeit wäre, vermag sie nicht zu sagen.

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