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#Kolumne „Bild der Woche“ von Katja Petrowskaja

Ein Chassid, Isaac de Hudea, der in Granada eigentlich als ein Katholik, als Perez Garcia aufgewachsen ist, gibt eine Flamenco-Meisterklasse in Kiew im Kriegssommer 2023. Ein Tag, an dem es wieder Luftalarm gibt. Gerade ist seine Kippa weggerutscht, er hat sie schnell gerichtet, erschrocken, als befände er sich mitten in einem liturgischen Ritus. Dann tanzt er weiter, ist gleich zurück in seine kindliche Freude geschlüpft, denn die Welt ist schön und voller Wunder. Alles leuchtet um ihn herum – die Fenster, der Saal, die Frauen. Wir sehen seine offenen Arme doppelt, als hätten sie Flügel bekommen.

Ich betrachte Dutzende Fotos, auf denen Isaac doppelt erscheint, direkt und im Spiegel, als wären schon auf den Fotos seine Geschichte und eine gewisse Metaebene sichtbar; und auch, um Kippa und Zizit, den weißen geknoteten Faden, besser zu sehen.

Mit der Natürlichkeit eines Derwischs

Meine Kindheitsfreundin Olga, die in Kriegszeiten mit ihren Freunden in ihrem Hinterhof im Zentrum Kiews zum epischen Wesen meiner Texte geworden ist, erschuf auch diese Geschichte. Für ihre Flamenco-Schule lädt sie jedes Jahr Choreographen und Sänger aus Spanien nach Kiew ein. In der Kriegszeit traute sich niemand in die Ukraine, doch dann verbreitete sich plötzlich aus dem Städtchen Uman, dem berühmten Pilgerort orthodoxer Juden, die Kunde von der nahenden Ankunft eines spanischen Chassiden. Er war da – ein Flamenco-Profi, Hippie des Judentums, mit fetzigem Bart, offen wie ein Kind, und er bewegte sich im Tanz mit der Natürlichkeit eines Derwisch.

Isaac hat im Konservatorium von Malaga studiert und sein ganzes Leben in bekannten Flamenco-Truppen in Spanien und Frankreich gearbeitet, unter anderem mit dem legendären Tänzer Antonio Canales. Erst vor wenigen Jahren erfuhr er aus Familiendokumenten, dass seine Vorfahren Marranen waren – die unter Zwang getauften Juden Spaniens, die auch noch während Francos Diktatur ihr Judentum verstecken mussten.

Diese Entdeckung traf ihn so sehr, dass er als passionierter frommer Katholik zum Judentum konvertierte. Er lernte die Tora und traf in Paris auf zwei Anhänger von Rabbi Nachman, dem fröhlichen Zaddik des Judaismus, zu dessen Grab jedes Jahr Tausende Gläubige aus aller Welt nach Uman pilgern, und folgte ihnen. Es war Rabbi Nachman, der die Musik als das Erbe der Propheten verstand und der glaubte, dass jeder Gläubige durch ekstatisches Gebet und Bewegung prophetische Inspiration erreichen könne. Wie nahe liegt da der Flamenco, der aus indischer, arabischer und sephardischer Kultur stammt?

Isaac singt, und etwas Mysteriöses passiert

Im fünften Monat des Krieges kam Isaac nach Uman, um dem Grabe Rabbi Nachmanns, des Heiligsten aller Chassiden, näher zu sein. Den Krieg beachtete er kaum, wiederholte jedoch die bewusste Geste seines Lehrers. Rabbi Nachman ging im Jahr 1810 nach Uman, um die Folgen eines fürchterlichen Pogroms zu tilgen, um für die Seelen der getöteten und vergessenen Menschen zu beten, Lebensfreude zu verbreiten und damit den Ort zu heilen. Die schiere Anwesenheit von Isaac in der heutigen Ukraine trägt ähnliche Züge, und alle spüren das. Vier Jahre lang hatte er Flamenco nicht mehr unterrichtet und sich nur noch in die Tora vertieft. Nun scheint es so, als hätten seine Berufung, Beruf und Ruf zusammengefunden.

Während seiner Meisterklasse tanzt Isaac und singt „Tangos de Granada“ – eine klassische Cante flamenco, die alle Tanzenden kennen. Aber eine solche Fassung, mit Isaacs improvisiertem Text, hat niemand zuvor in der Geschichte des Flamencos gehört: „Ich möchte in der Ukraine leben, von Uman nach Kiew gehen, um mit den Kiewer Flamencos zu tanzen“, singt er und: „Du bist die Schönste, wir fahren zu Rosch ha-Schana nach Uman.“ Ich höre es in einem Video und bekomme Gänsehaut. Alle Tanzenden verstehen, dass etwas Unerhörtes passiert. Ein Mysterium. Ein ungewöhnlicher Segen. Er singt, und etwas Skurriles und Mysteriöses passiert. Neue Worte für den Flamenco, neue Taten für einen Chassiden. Ist es eine Revolution? Und falls ja – für den Flamenco oder für den Chassidismus? Eine neue Tradition? Fusion? Mit seinem Tanz segnet Isaac ein Leben in Normalität in der Ukraine, ein Tanz den Widrigkeiten zum Trotz.

Man sagt, dass im Flamenco Duende, der Geist des Tanzes, das Wichtigste sei. Olga meinte, dass man jedoch vergessen habe, dass Duende ein kleiner Hausgeist sei, ein Genius Loci. Isaac hat es geschafft, er verkörpert Duende und löst damit die großen Fragen nach Identität und Zugehörigkeit, Appropriation und Heimat an einem Ort, der gerade nicht nur metaphysischen Schutz braucht.

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