#Kosmische Expansion weiter strittig
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Seit dem Urknall dehnt sich das Universum immer weiter aus. Doch die gemessene Rate dieser kosmischen Expansion entspricht nicht den Voraussagen des kosmologischen Standardmodells – die Ausdehnung des Kosmos läuft heute schneller ab als sie dürfte. Astronomen haben nun die bisherigen Messungen mithilfe des James-Webb-Weltraumteleskops überprüft. Mit ihm bestimmten sie die Entfernungen von Supernovae, veränderlichen Sternen, Roten Riesen und kohlenstoffreichen Riesensternen in verschiedenen Galaxien. Diese neuen, teils genaueren Messungen bestätigen die Diskrepanz der Beobachtungen zum kosmologischen Standardmodell. Die aus ihnen ermittelte Hubble-Konstante – ein Maß für die kosmische Ausdehnung – liegt signifikant höher als der mittels Modellen und Daten des frühen Kosmos ermittelte Wert, wie das Team berichtet.
Seit unser Universum vor gut 13,8 Milliarden Jahren im Urknall entstanden ist, dehnt es sich immer weiter aus. Diese kosmische Expansion entdeckte schon der Astronom Edwin Hubble im Jahr 1929 anhand der Rotverschiebung entfernter Galaxien. Nach ihm ist daher auch die Konstante benannt, die in den Einsteinschen Feldgleichungen die Rate dieser Expansion beschreibt – die Hubble-Konstante, kurz H0. In den 1990er Jahren entdeckten Astronomen dann, dass sich diese kosmische Expansion – anders als zuvor erwartet – im Laufe der Zeit beschleunigt hat. Als mögliche Triebkraft dafür gilt die Dunkle Energie – eine bisher nicht genauer definierte Kraft, die der anziehenden Wirkung der Gravitation entgegenwirkt. Das kosmologische Standardmodell berücksichtigt dies und kombiniert Beobachtungsdaten zum frühen Kosmos in Form der kosmischen Hintergrundstrahlung mit theoretischen Modellen der kosmischen Entwicklung.
Hubble-Messdaten überprüft
Doch auch zu diesem kosmologischen Standardmodell gibt es Diskrepanzen: Die kosmische Expansion verläuft heute schneller als sie es den Modellen zufolge dürfte. Dem Standardmodell nach müsste die Hubble-Konstante bei rund 67 Kilometer pro Sekunde pro Megaparsec liegen. Doch in den letzten rund zwei Jahrzehnten haben astronomische Messungen regelmäßig deutlich höhere Werte ergeben. Für solche Messungen ermitteln Astronomen die Entfernung und Rotverschiebung von Supernovae, veränderlichen Sternen (Cepheiden) oder von Roten Riesen. Einer der bisher umfangreichsten Datensätze stammt vom Hubble-Weltraumteleskop und umfasst 42 Supernovae des Typs 1a in 37 verschiedenen Galaxien, deren Entfernungen zusätzlich mit Cepheiden abgeglichen worden sind. Diese und weitere Beobachtungen ergeben im Schnitt eine Hubble-Konstante von 73 Kilometer pro Sekunde pro Megaparsec – und damit einen signifikant höheren, um rund fünf Standardabweichungen vom Modell abweichenden Wert.
Jetzt hat ein Astronomenteam um den Nobelpreisträger Adam Riess von der Johns Hopkins University in Baltimore das James-Webb-Teleskop genutzt, um die Expansionsrate erneut zu messen. “Die neue Fähigkeiten des Webb-Teleskops bieten uns die Möglichkeit, zusätzliche Überprüfungen durchzuführen, indem wir die mit ihm gemessenen Entfernungen zu Supernova-Wirtsgalaxien mit den Ergebnissen des Hubble-Teleskops vergleichen”, erklären die Astronomen. Für diese Studie ermittelten sie die Entfernungen von 16 Supernovae – gut einem Drittel des Hubble-Datensatzes, außerdem von Cepheiden, Roten Riesen sowie einer Klasse von kohlenstoffreichen Riesensternen, die ebenfalls als geeignete Entfernungsmarker gelten. “Die Webb-Daten verbessern das Signal-zu-Rausch-Verhältnis erheblich und zeigen uns das Universum gewissermaßen in HD”, erklärt Riess’ Kollege Siyang Li.
Diskrepanz bleibt
Die Auswertung bestätigte die Diskrepanz in den Messungen der kosmischen Ausdehnung zum Modell: Die verschiedenen Entfernungsmarker ergaben jeweils Hubble-Konstanten zwischen 72,1 und 73,4. “Das für alle Methoden zusammenfasste Ergebnis des James-Webb-Teleskops liegt bei 72,6 Kilometer pro Sekunde pro Megaparsec”, berichten Riess und sein Team. Dieser Wert bestätigt die früheren Messungen mit dem Hubble-Weltraumteleskop für die vermessenen Galaxien und zeigt gleichzeitig, dass die Abweichungen vom Standardmodell demnach nicht auf Messunsicherheiten oder Fehlern des Hubble-Teleskops beruhen können. “Die Diskrepanz zwischen der beobachteten Expansionsrate des Universums und den Vorhersagen des Standardmodells deutet darauf hin, dass unser Verständnis des Universums unvollständig sein könnte”, sagt Riess. “Mit zwei NASA-Flaggschiff-Teleskopen, die ihre Resultate gegenseitig bestätigen, müssen wir das Problem der Abweichungen in der Hubble-Konstante sehr ernst nehmen – es ist eine Herausforderung, aber auch eine unglaubliche Chance, mehr über unser Universum zu lernen.”
Bisher ist unklar, wodurch die Abweichungen hervorgerufen werden und an welchem Punkt das kosmologische Standardmodell unvollständig sein könnte. “Eine mögliche Erklärung für die Diskrepanz in der Hubble-Konstante wäre, dass in unserem Verständnis des frühen Universums etwas fehlt, beispielsweise eine neue Komponente wie die frühe Dunkle Energie, die dem Universum nach dem Urknall einen unerwarteten Impuls gegeben hätte”, erklärt der nicht an der Studie beteiligte Kosmologe Marc Kamionkowski von der Johns Hopkins University. “Es gibt aber auch andere Ideen, wie noch unerkannte Eigenschaften der Dunklen Materie, exotische Teilchen, sich ändernde Elektronenmassen oder primordiale Magnetfelder, die das Problem lösen könnten. Theoretiker können hier sehr kreativ sein.“
Quelle: Adam Riess (Johns Hopkins University, Baltimore) et al., The Astrophysical Journal, doi: 10.3847/1538-4357/ad8c21
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