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#Lars Reichardts Buch „Zimmer für immer“

Nach einem Drittel der Lektüre endlich zwei längst fällige Sätze: „Meine Mitbewohner verwundern mich. Und sie ärgern mich.“ Bis zu diesem Punkt scheint Lars Reichardt ein nachsichtiger Beobachter zu sein, der vor allem den phänomenologischen Blick des Reportage-Autors kultiviert. Beschreiben, charakterisieren, nicht zu viel werten, zwischendurch mit knappen Setzungen sagen, was der Fall ist oder zumindest der Fall sein könnte. Zum Beispiel über eine süddeutsche Kommune: „Tempelhof war und ist ein Sozialexperiment.“ Kurz darauf: „Vielleicht ist Tempelhof ein Symbol für die neue Landlust vieler Städter.“

Reichardts Buch „Zimmer für immer“ versammelt ein aktualisiertes Best-of seiner Texte aus dem „SZ-Magazin“ über verschiedene Formen des Wohnens. Ausgeklammert bleiben die Kleinfamilie und das Singleleben. Detailliert berichtet er über die eigene Münchner Wohngemeinschaft, die diesen Namen nur mit Einschränkungen verdient, denn das Haus, in dem sie sich mit wechselndem Personal eingerichtet hat, gehört dem Autor. Er ist also so etwas wie der Boss und könnte, wenn er denn wollte, mit Mahnungen und Machtworten um die Ecke kommen. Will er aber nicht. Vor allem möchte er, wie er hervorhebt, nicht genervt klingen: „Ich mag meine Mitbewohner.“

Lars Reichardt: „Zimmer für immer“. Meine Suche nach einem Ort zum Bleiben.


Lars Reichardt: „Zimmer für immer“. Meine Suche nach einem Ort zum Bleiben.
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Bild: Verlag Kein & Aber

Das gilt auch für Birgit, Biologiestudentin mit Interesse an Schleimpilzen. Ein schwieriger WG-Fall. In der Corona-Zeit lange ungeimpft und überdies strikte Gegnerin nachmitternächtlichen Duschens, denn das sei „acht Dezibel laut und sie würde das nebenan hören“. Fast täglich trägt sie einen Hoodie, entweder einen grünen oder einen gelben. Auf dem gelben ist zu lesen: „Montreux Rave 2016“. Mehr muss man nicht wissen, um ein wenig ungnädig auf diese Frau zu schauen. Immer wieder bringt Reichardt leisen, fast vornehm klingenden Spott unter, allerdings nie, ohne später Ausgleichendes zu vermelden. Und so verwandelt sich Birgit am Ende tatsächlich in eine Sympathieträgerin.

Die im Rahmen eines solchen Buchs unvermeidbare WG-Folklore fehlt auch hier nicht: Kühlschrank und Toilette, daran entzünden sich Zerwürfnisse; wenn erst einmal alles gegeneinander aufgerechnet wird, geht’s bergab; gemeinsame Mahlzeiten sind das beste Heilmittel, sobald es kriselt. Derartige Klischees verzeiht man dem Autor, weil er sie an seinen Figuren lebhaft illustriert. Er liefert mal mild ironische, mal zugewandte Porträts, ohne den bei jeder Art von WG-Prosa naheliegenden Fehler zu begehen, lauter schrullige Typen aus Arthouse-Filmen zu skizzieren.

Auch Prominente aus der dritten Reihe haben ihren Auftritt, etwa Reichardts Mutter Barbara Valentin, der er vor fünf Jahren eine Monographie widmete und die in den Siebzigern in einigen Fassbinder-Filmen mitspielte. Oder Rudi Dolezal, der mit Hannes Rossacher unter dem Namen DoRo Beiträge fürs Jugendfernsehen und Musikvideos drehte, bei Reichardt kampierte, einen Fernseher zum Einschlafen braucht – und nicht weiß, wie lange man Nudeln kocht.

Das meiste in diesem Buch verdankt sich der eigenen und, was nicht schlecht sein muss, reflexionsarmen Anschauung. Reichardt pflegt einen schmucklos reihenden, gewissermaßen entschlackten und gerade deswegen einnehmenden Stil. Das klingt so: „Auch Ulf ist heute schon tot. Herzinfarkt auf dem Laufband mit sechzig. Ingrid, seine Frau und auch die Mutter zweier gemeinsamer Töchter, lebt heute allein in der Wohnung.“

Lars Reichardt


Lars Reichardt
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Bild: Enno Kapitza

Dann kommen sie allerdings doch noch, die harten Fakten und Zahlen. Im Münchner Ledigenheim, vor knapp hundert Jahren von wohlhabenden Leuten für Alleinstehende und Wanderarbeiter finanziert, lebten 2021 rund vierhundert Männer aus zweiundfünfzig Nationen zu erschwinglichen Mietpreisen.

Oder: Architekten moderner Bauten haben lange Zeit so auf Effizienz und Funktionalität geachtet, dass ihre Schlafzimmer oft gerade mal Platz für das damals 1,90 Meter lange und neunzig Zentimeter breite Durchschnittsbett hatten. Heute sind Betten größer, und die entsprechenden Schlafzimmertüren lassen sich nicht mehr ganz öffnen. Partywissen, keine Frage, aber Reichardt präsentiert es auf angenehm gefällige Art.

Lars Reichardt: „Zimmer für immer“. Meine Suche nach einem Ort zum Bleiben. Verlag Kein & Aber, Zürich 2023. 224 S., geb., 24,– €.

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