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#Leid und Aufruhr in jeder Blue Note

Leid und Aufruhr in jeder Blue Note

Großmutter Rose war die prägendste Figur in Archie Shepps frühen Jahren. Jeden Sonntag, erzählt er, ging sie mit ihm in die Piney Grove Baptist Church, wo zusammen mit anderen alten Damen gebetet wurde. „I know how to pray“, sagt Shepp, „ich kann noch heute beten, ich weiß, wie man betet, es fühlt sich nicht künstlich oder oberflächlich an. Dass ich ein sehr spiritueller Mensch bin, liegt also zum Teil an meiner Großmutter.“ Regelmäßig nahm „Mama Rose“ den kleinen Archie im Philadelphia der vierziger Jahre zu den „Battles of Song“ mit – bedeutende, im ganzen Land bekannte Gospel Bands traten dort auf, The Golden Gate Quartet, The Swan Silvertones, The Five Blind Boys, The Clara Ward Singers, Mahalia Jackson und viele andere. „And that’s where I first heard Gospel Music. It was something that will stay with me always.“

Dass der Saxophonist, Komponist, Autor und Aktivist Archie Shepp diese Musik seiner Kindheit in sich trägt, lässt sich schwerlich überhören: Selbst als er in den Sechzigern Teil jenes musikalischen Aufbruchs war, den man „New Thing“ nannte, spürte man in seinem Ton immer auch die Tradition, die Ring Shouts und Worksongs, die Gospelmusik. Den Blues nannte Shepp einmal eine Metapher schwarzer Erfahrungen. Gerade seine Duo-Aufnahmen – mit den Pianisten Horace Parlan etwa oder Dollar Brand – waren immer auch Rückbesinnungen auf die Wurzeln seiner Musik, auf Songs, in denen die Spannung von Sehnsucht und Selbstermächtigung, Leid und Aufruhr in jeder Blue Note vibriert.

Diese Identitätserkundungen setzt er nun auf eindrucksvolle Weise mit einem Enkel im Geiste fort – dem 46 Jahre alten Pianisten Jason Moran, der vielleicht wie kein Zweiter seiner Generation die Linien afroamerikanischer Musik vom späten 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart weiterdenkt und der immer wieder mit Shepp aufgetreten ist, etwa bei einigen John-Coltrane-Tribute-Konzerten. Ihr erstes gemeinsames, nun erscheinendes Album besteht aus den Mitschnitten zweier Konzerte, die im September 2017 in der Pariser Philharmonie im Rahmen des Villette Festivals und in der Alten Feuerwache Mannheim während des Enjoy Jazz Festivals im November 2018 stattgefunden haben.

„Let My People Go“ verbindet Spirituals wie „Go Down Moses“ und „Sometimes I Feel Like a Motherless Child“ mit Jazz-Klassikern wie „Wise One“, „Lush Life“ oder „’Round Midnight“. Es ist ein eindrucksvolles Dokument. Nicht nur, weil der 83 Jahre alte Shepp mit seinem an Ben Webster orientierten Saxophonspiel, seinem rauchigen, wütenden, explodierenden, dann wieder sanften, seufzenden, schmeichelnden Ton und dem altersweisen, berührenden Bariton-Gesang noch immer auf der Höhe seines Könnens ist. In Jason Moran hat er einen furiosen Partner gefunden, der in den wohlbekannten Stücken neue Ecken und Kanten entdeckt und den Raum, der zwischen den solistischen Passagen entsteht, fantasiereich zu füllen weiß. Moran, der in der Vergangenheit mit großen Saxophonisten wie Charles Lloyd, Lee Konitz oder Sam Rivers gespielt hat, liebt die Intimität des Duos, die unerschöpflichen und herausfordernden Zufälle des improvisatorischen Zwiegesprächs.

„Let My People Go“ ist ein Meisterwerk aber auch deshalb, weil es die historische Dimension der Verzweiflung, Trauer und Hoffnung afroamerikanischer Musik mit wehmütiger Intensität in die Gegenwart trägt und in der Auseinandersetzung mit dem tradierten Material zugleich eine politische Dringlichkeit aufscheinen lässt. „Archie und ich wissen beide, dass Musik für die zukünftige Freiheit der Schwarzen eine wichtige Rolle spielt“, sagt Jason Moran im Interview über „Let My People Go“. „Wir kennen und teilen die Mission, den Sound mit einer kulturellen Revolution zu verbinden.“ Es ist jener Anspruch, den das Album einlöst. „Afroamerikanische Musik erzählt unsere Geschichte in Amerika – die Spirituals, der Blues, der Beat“, betont Moran. In der Musik bleibt die Vergangenheit lebendig. „Let My People Go“ hat deshalb etwas Zeitloses. „Diese Themen, ob Black Lives Matter oder Geflüchtete, werden immer auf Widerhall stoßen“, sagt Moran. „Wir brauchen diese Songs, die den Lauf der Zeit erzählen und uns dabei vor heutigen Ungerechtigkeiten warnen.“ Und wir brauchen Musikerinnen und Musiker, die diese alten Songs immer wieder neu erfinden.

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