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#Mein eigenes Tief

Mein eigenes Tief

Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum.“ So beginnt „Der Mann ohne Eigenschaften“. Ich hätte mir schamlos Musils Incipit ausleihen können, um damit eines der Kapitel von „Die Anomalie“ zu beginnen, zumal eine der Figuren Miesel (Victor) heißt, was nicht weit von Musil (Robert) entfernt ist . . .

Die Literatur bietet sehr viele meteorologische Romananfänge. Mein Favorit ist der von Gustave Flaubert mit diesem „menschenleeren“ Boulevard Bourdon, auf dem seine beiden Figuren Bouvard und Pécuchet einer Temperatur von 33 Grad Celsius ausgesetzt sind. Schriftsteller lieben die Meteorologie, und wenn sie ihre Figuren oft schon im ersten Satz einer bestimmten Luftfeuchtigkeit, einem bestimmten Luftdruck aussetzen, dann nicht nur aus einfachen erzähltechnischen Gründen. Denn die Farbe des Himmels sagt dem Leser etwas, weil „dieses Wetter“ von Anfang an die natürliche Metapher für die Atmosphäre (wiederum eine Metapher) des Romans sein wird.

Auch die „Odyssee“ oder „Moby Dick“ sind ohne die Wut der Elemente nicht denkbar, und der Sturm ist für die Literatur immer fruchtbar. Er ist der eigentliche Vorstellungsraum der Reise, die höchste Gefahr für diejenigen, die es wagen, ihr Dorf zu verlassen. Er ist der schreckliche Moment, an dem man allein und hilflos ist. Und ja: Auch ich wollte den Kumulonimbus beschreiben, mein eigenes „Tief über dem Atlantik“ schaffen, die Geschichte des Flugzeugs und des Hurrikans erzählen, nachdem ich schon so einiges bei dem imposanten Schriftsteller und Piloten Romain Gary gelesen hatte.

Der Wunsch „den Himmel zu kennen“

In Romanen ist der Sturm natürlich auch das absolute Gegenteil des wahren Schreckens, denn er ist vor allem das, was dem bequem in seinem Sessel sitzenden Leser erspart bleibt. Wenn Roland Barthes Jules Verne zitiert, dieses „gemeinsame Glück der Endlichkeit“, diese Erkundung der Eingegrenztheit durch die Fantasie des Reisens, diesen existenziellen Traum der Kindheit, wählt er als Beispiel den „fast perfekten“ Roman „Die geheimnisvolle Insel“. Dieses „Kind im Mann (oder der Frau)“, das der Leser ist, weil es sich wieder einmal Geschichten erzählen lässt, „erfindet die Welt neu, füllt sie aus, schließt sie ein, schließt sich in ihr ein (. . .), während draußen der Sturm, das heißt das Unendliche, sinnlos tobt“.

Der französische Schriftsteller Hervé Le Tellier.


Der französische Schriftsteller Hervé Le Tellier.
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Bild: EPA

Aber das ist noch nicht alles. Mich, der ich schon immer Gefallen an der Etymologie fand, freut es, dass das Wort Meteorologie vom altgriechischen μετέωρος (das, was über der Luft ist) und λογος(Wissen) kommt. Also „den Himmel kennen“, um vorherzusagen, was uns morgen erwartet. Denn der Mensch wollte schon immer vorhersehen, zweifellos auch, um zu herrschen. Und das Wetter ist zweifellos das Erste, was er vorhersehen wollte, um zu säen und zu ernten, auch um Krieg zu führen.

Um zu antizipieren, müssen wir natürlich aus Erfahrungen der Vergangenheit lernen und mit diesen Fakten umgehen. Wir nutzen inzwischen die immer größeren Möglichkeiten der Computersimulation. Mit dem Projekt Destination Earth versucht Europa, eine virtuelle Klima-Erde, einen digitalen Zwilling des Planeten, zu schaffen, um das Wetter in zehn Jahren bildlich darstellen zu können: Die Leser der „Anomalie“ werden hier das Potential dieses im Roman auf die Spitze getriebenen Experiments wiedererkennen. Aber die Meteorologie ist nicht das Klima.

Mit besserem Wetter hätte es wohl keinen „Frankenstein“ gegeben: Lord Byron vor der Villa Diodati am Genfer See, Stahlstich um 1833.


Mit besserem Wetter hätte es wohl keinen „Frankenstein“ gegeben: Lord Byron vor der Villa Diodati am Genfer See, Stahlstich um 1833.
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Bild: picture alliance / akg-images

Wenn man Feuer unter einem Topf macht und einen Korken hineinwirft, weiß man nicht, wo der Korken nach ein paar Sekunden sein wird; aber man kann sagen, dass das Wasser in einer Minute kochen wird. Ebenso ist das künftige Klima vorhersehbar und ableitbar, und das Schicksal, das unsere Zivilisation erwartet, ist leider unausweichlich. Aber das Wetter des nächsten Monats wird noch lange Zeit chaotisch und zufällig bleiben. Wären allerdings die Admirale Philipps II. von Spanien mit unseren Instrumenten ausgerüstet gewesen, hätten die Geschwader seiner Armada nicht umkehren müssen und man spräche heute in London wie in New York sicher Spanisch. Die Sprache, in der wir leben, verdankt den Wolken, dem Regen und dem Wind sehr viel.

Was die Literatur dem Wetter verdankt

Und auch die Literatur hat ihnen viel zu verdanken. Am 5. April 1815 brach der Vulkan Tambora auf der Insel Sumbawa in Indonesien aus. Er spuckte gewaltige Staubwolken in die Luft, und in seiner Umgebung war es tagelang stockfinster. In Teilen Nordamerikas und Europas fielen die Temperaturen um mehr als zehn Grad Celsius. Tolstoi beschreibt in „Krieg und Frieden“ ein wunderschönes Haferfeld, auf dem ein Lager errichtet worden war und das von den Soldaten gemäht wurde, offensichtlich fürs Futter. Und im folgenden Jahr, einem weiteren „Jahr ohne Sommer“, blieb die zukünftige Mary Shelley mit ihrer Halbschwester Claire Clairmont und ihrem Geliebten Percy Shelley tagelang in der großen Villa eingeschlossen, die Lord Byron am Ufer des Genfer Sees gemietet hatte, und eine stürmische Julinacht prägte die Literaturgeschichte: „Wir werden alle eine Geistergeschichte schreiben.“

Ich erinnere mich gerne daran, dass Frankenstein auf diese Weise geboren wurde, in den Wirbeln eines Sturms, der die Sommersonne auslöschte.

Aus dem Französischen von Romy und Jürgen Ritte.

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