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#Mit der Jurabrille

Mit der Jurabrille

Vor ein paar Jahren habe ich mir eine neue Brille zugelegt. Eine mit runden Gläsern, einem diskreten Metallgestell, oben mit verstärktem Rand – Retroflair, aber bitte ohne Fünfzigerjahre-Bigotterie, denn ich bin ja jung und großstädtisch und modern. Die neue Brille kam mit einem neuen Studium, vielleicht kam auch das Studium mit der Brille, das scheint so eine Huhn-Ei-Geschichte zu sein, denn plötzlich saß ich in einem Hörsaal mit knapp fünfhundert Nasen, von denen auf jeder zweiten eine hippe, hoch individuelle Retrobrillenkreation thronte. Jetzt also Jura – der Studiengang für all diejenigen Bürgertumskinder, die fürs Medizinstudium zu schlecht in den Naturwissenschaften waren, aber zu elitär, um BWL zu studieren.

Nach einigen Monaten des Studierens, stellte ich fest, dass die neue Jurabrille den Blick auf meinen Alltag schleichend und ganz und gar uneingeladen veränderte. Im Supermarkt schlenderte ich zwar immer noch drei Mal am Chips- und Flipsregal vorbei, um dann nichts zu kaufen, machte mir daraufhin aber plötzlich Gedanken, ob es schon als Aufnahme von Vertragsverhandlungen gilt, wenn man „nur mal gucken“ will.

Einkaufen gewann durch die Jurabrille auf einmal neue Facetten: Mit überheblichem Lächeln streifte dann mein Blick durch die Gänge, wohlwissend, dass über dem Preisschild zwar Angebot steht, es aber natürlich eigentlich „Einladung zum Angebot“ heißen müsste. Leider konnte ich aus diesem triumphalen Wissensvorsprung für mein tägliches Leben keine unmittelbaren Vorteile schöpfen.

„Das kommt drauf an.“

Überhaupt stellte sich Veränderung zunächst einzig und allein bezüglich der Geduldsspanne meiner Familie und Freunde ein, mit denen ich mein neu gewonnenes Fachwissen großzügig teilte. Aus Erfahrung kann ich sagen, dass einem nicht nur Dankbarkeit entgegenschlägt, wenn man Freunde über den Unterschied zwischen „Eigentümer“ und „Besitzer“ unterrichtet.

Ich begann damit, AGBs zu lesen, bevor ich Verträge unterschrieb. Zugegeben: Das wäre auch schon vor dem Studium keine schlechte Idee gewesen. Aber im zweiten Semester suchte ich fröhlich in meinen Verträgen nach überraschenden Klauseln, wie nach Walter auf einem Vexierbild.

In politischen Diskussionen ließ ich keine Argumente mehr gelten, wenn sie aus juristischer Sicht nicht tragbar waren. Ich halte das auch immer noch für eine relevante Diskussionsebene, habe inzwischen aber gelernt, dass niemand um 1 Uhr morgens auf dem Balkon etwas über Grundrechtsschutz im Mehrebensystem hören will. Jurastudierende sind, besonderes zu Beginn ihres Studiums, anstrengende Gesprächspartner. Sie sprechen plötzlich Latein, obwohl sie eigentlich gar kein Latein können, aber „sui generis“ hat nun mal einen besseren Klang als „eigener Art“. Sie wissen vieles besser, aber auf Rückfragen antworten sie gern mit breitem Lächeln: „Das kommt drauf an.“ – überhaupt der Lieblingssatz eines jeden Juristen, denn das stimmt eigentlich immer.

AGBs finde ich so öde wie Raufasertapete

Die latente Besserwisserei steht dabei im krassen Kontrast zu dem Gefühl, in der Vorlesung eigentlich gar nichts verstanden zu haben und überhaupt dümmer zu sein als alle Mitstudierenden. Es ist ein Selbstbewusstseinsparadoxon, das uns eint: Im ersten Semester Jura treffen meist diejenigen zusammen, denen in der Schule vieles leicht gefallen ist, die in ihrer Klasse für ihre Diskussionsstärke bekannt waren. Und plötzlich ist man dann nur noch Eine unter vielen.

Seit dem Beginn meines Studiums ist nun schon etwas Zeit vergangen. Die Jurabrille ist mir inzwischen ans Herz gewachsen. Im Supermarkt interessiere ich mich mittlerweile eher für Nudeln und Rotwein als für Chips. Und AGBs finde ich so öde wie Raufasertapete. Die wichtigen lese ich trotzdem, vielleicht steht ja doch mal was Überraschendes drin.

Lina Kujak (22 Jahre alt) studiert Jura im sechsten Semester an der HU Berlin. Beziehungsstatus zum Studienfach: „It’s complicated.“ Wüsste gerne, wer 2020 mit Regenschirm und schwarzer Katze unter einer Leiter durchgelaufen ist.

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