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#Mit Träumen an die Macht

Mit Träumen an die Macht

Jede Zeit hat ihre Farbe. So stand es in einer menschenleeren Halle in Berlin-Kreuzberg über dem Podium. Grau sei die Farbe der Saison, könnte man in diesem November meinen. Deutschland dämmert im Corona-Lockdown, Furcht und Wut nehmen zu, grau der Himmel, trübe die Gedanken. Doch das war nicht gemeint, jedenfalls nicht von der Partei, die am Wochenende ein neues Grundsatzprogramm beschlossen hat und deren Farbe Grün ist, Grün wie die Hoffnung.

Wer die Reden der Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck hörte, wurde in einen grünen Gesellschaftstraum eingeladen. Eine dekarbonisierte, feministische Friedensdekade schwante vom Bildschirm, eine Zeit, in der grüne Architekten ein Haus aus Lehm und Stroh errichten, das „diese Gesellschaft schützt und das von Menschen bewohnt wird, die einander achten“. So schwärmte Habeck.

Im grünen Grundsatzprogramm wird die Welt zu einem Ort, wo Diplomat*innen und Kundschafter*innen des guten Gewissens eine sozial-ökologische Globalwirtschaft errichten, in der Ost und West, Nord und Süd Nahrung, Hoffnung und Liebe finden. Das Ganze gipfelt in das Motto „Veränderung schafft Halt“. Das kann man, so überhaupt, besser verstehen, wenn man Philosophie studiert hat oder wenigstens Habecks Roman „Unter dem Gully liegt das Meer“. Die Frage ist: Meinen die das ernst?

Symptome für Realitätsverlust?

Visionen zu haben kann ein Symptom für Realitätsverlust sein. Andererseits braucht es für den Zusammenhalt einer Gesellschaft schon mehr als das Versprechen, Weihnachten werde unterm grünen Tannenbaum stattfinden dürfen, wenn alle jetzt im grauen Lockdown light bleiben. Auch rein technisch gesehen, haben die Grünen Zweiflern bewiesen, wie es geht.

Während die Union seit einem halben Jahr vergeblich versucht, ihren Parteitag abzuhalten, haben die Grünen eine verbindliche Abstimmungsmaschinerie ebenso auf die Beine gestellt wie eine interessante, abwechslungsreiche Mischung aus sachlichen Debatten und politischer Unterhaltung. Niemand will alle künftigen Parteitage so erleben, aber ausgerechnet die angeblich eher chaotischen Technikfeinde von der Ökopartei haben der CDU vorgemacht, wie das Digitale in Corona-Zeiten funktionieren kann. Wenn man nur will.

Bemerkenswerterweise bleibt das neue Grundsatzprogramm der Grünen hinter den Wochenendreden der Parteivorsitzenden zurück: Verglichen mit Habecks Macht-Poesie und Baerbocks klarem Regierenwollen, ist daraus ein geradezu zurückhaltender Text geworden. Ja, es enthält idealistische, passagenweise auch visionäre Deklarationen zu Überzeugungen und Absichten. Doch haben zwei Drittel der Delegierten fast über die ganze Debattenzeit hinweg gründlich darauf geachtet, dass hypermoralische Zuspitzungen vermieden wurden. Also wird die Bundeswehr nun doch nicht entwaffnet, und in der ökologischen Zukunftswirtschaft darf es auch Unternehmer geben, nicht nur paragesetzliche Regulatoren mit Grundeinkommen und dem Recht auf Nichtstun. Abstimmung für Abstimmung wurden in den digitalen Erörterungen alle Versuche niedergestimmt, der Parteiführung die Wege zur breiten Mitte, und damit zur Macht, zu versperren.

Dabei geht es vor allem um das Regieren mit der Union. Während Grüne Jugend und einige Gastrednerinnen von der Friday-Bewegung weiter von alternativen Gesellschaftsentwürfen ausgerechnet mit der ausgebrannten Sozialdemokratie träumten, erwähnte Baerbock diese mit keinem, Habeck nur mit einem Halbsatz. Die Linke war gar nicht der Rede wert.

Selbstverliebte Auftritte

Wenn die Regierungsfähigkeit einer Partei sich daran bemisst, wie weit Idealismus und Realpolitik zusammenpassen, dann sind die Grünen sowohl in ihrem theoretischen Grundsatzprogramm als auch im Regierungsalltag in Baden-Württemberg, Hessen und anderswo weit gekommen. Das sind die Vorbilder, nicht das rot-rot-grün herabgewirtschaftete Berlin. In allen Regierungsparteien stehen notwendige Alltagsbeschlüsse, manche sogar alternativlos, mitunter im Gegensatz zur Parteibasis, zu Sonntagsreden oder auch zur Programmatik des eigentlich Gewollten. Wird dieser Gegensatz zu groß, droht der Zerfall, wie die Geschichte der SPD lehrt. Die Grünen, so viel kann man sagen, gehen da nach zwei Anläufen 2021 vergleichsweise gut gerüstet in einen künftigen und desillusionierenden Regierungsalltag.

Ob es zu grüner Regierungsführung mit wem auch immer kommt, bleibt nach den geradezu selbstverliebten Auftritten der beiden eventuellen Kanzlerkandidaten Baerbock und Habeck vom Wochenende dennoch fraglich. Vor drei Jahren hat nicht einmal jeder und jede Zehnte die Partei gewählt, 8,9 Prozent. Nach einem Zwischenhoch stehen sie aktuell in Umfragen bei 17 bis 19 Prozent. Schöne Umfragen und liebenswerte Anführer hatten Grüne schon oft. An der Urne waren die Wähler dann meistens sehr viel nüchterner. Doch gilt das diesmal auch? Man sollte jedenfalls nicht nur schwarzsehen, wenn es ums Regieren ab 2022 geht.

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