#Planlos ins 9-Euro-Experiment
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„Planlos ins 9-Euro-Experiment“
Bald beginnt in Deutschland ein bislang nie gewagtes Verkehrsexperiment. Der Preis für ein Monatsticket wird zwischen Anfang Juni und Ende August so drastisch gesenkt, dass nur ein symbolischer Betrag von 9 Euro übrig bleibt – für den gesamten öffentlichen Nahverkehr wohlgemerkt, also für Busse, S-, U- und Regionalbahnen. In vielen Regionen ist das nur ein Zehntel des sonst abgerufenen Preises.
Damit wird die Nutzung des öffentlichen Angebots so sagenhaft günstig, dass sich dem niemand mehr entziehen kann. Das jedenfalls ist das Kalkül hinter dem Vorschlag, der Ende März überraschend in einer nächtlichen Sitzung der Ampelkoalition als Teil eines umfassenden Entlastungspakets geboren wurde. Um die Dimension des Vorschlags zu verstehen, muss man sich die erwarteten Kosten von rund 2,5 Milliarden Euro vor Augen führen. Denn mit 9 Euro im Monat liegt der rein am Marketing orientierte Betrag noch weit unter dem Wiener Modell des 365-Euro-Jahrestickets. Offensichtlich ist den Bürgern in der Energiekrise hierzulande nicht einmal mehr ein Euro am Tag für funktionierenden öffentlichen Nahverkehr zuzumuten. Ob sich freilich auch autofahrende Neukunden von dem Schnäppchen überzeugen lassen oder man nur die Fortbewegung der Stammkunden subventioniert, weiß kein Mensch.
Der Grundgedanke, mehr Menschen in Busse und Bahnen zu lenken, ist richtig – zumal dem Verkehrssektor gerade bescheinigt wurde, 2021 die Klimaziele gerissen zu haben. Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) wird deshalb ein Sofortprogramm erarbeiten müssen. Ein überzeugender Baustein ist das Konzept, für Wege zur Arbeit, zur Familie oder zur Erholung vor allem auf Busse und Bahnen zu setzen. Doch dazu muss das öffentliche Angebot nicht nur preislich, sondern vor allem auch, was die Fahrzeit und den Komfort angeht, wettbewerbsfähig werden. In vielen Fällen geht es mit dem Auto schneller und bequemer.
Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP)
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Bild: Rainer Unkel
Die Probleme sind längst erkannt, Ideen für einen besseren Mix an Transportmitteln und einen Fokus auf „On demand“-Angebote gibt es zuhauf. Sie zu verwirklichen ist mühselig und kostenträchtig. In dieser Situation die Verkehrsbetriebe ohne Vorwarnung in ein steuerfinanziertes, befristetes Rabattmodell zu zwingen, das auf Dauer völlig unbrauchbar ist, ist widersinnig. Das wäre so, als würde der Staat drei Monate lang Milliarden investieren, um Gemüse zu verschenken, nur damit sich die Menschen endlich vom Fleisch abwenden. Auch solch eine Maßnahme bekäme wohl Applaus. Allerdings produzierte dieses Vorhaben unweigerlich Engpässe. Und es ignoriert die simple Tatsache, dass vielen Menschen Fleisch ausgesprochen gut schmeckt. Ähnlich profan sind die Gründe, in das Auto zu steigen: Bequemlichkeit und Zeitersparnis. Autonutzer nun ausgerechnet in den heißen Sommermonaten in überfüllte und deshalb noch unpünktlichere Züge zu locken ist kein erfolgversprechender Ansatz. Wirksamer wäre der Aufbau eines stetigen Angebots für zügige, staufreie Pendelei mit einem Transportmittel, in dem man die Zeit gut nutzen kann.
Ein überhasteter Marketinggag
Das wissen die Verkehrsbetriebe. Ihnen dürfte angesichts des überhasteten Marketinggags mulmig werden. Für einen funktionierenden öffentlichen Nahverkehr gibt es in Deutschland keinen Applaus, er wird trotz der hohen Kosten und des unglaublichen organisatorischen Aufwandes als selbstverständlich hingenommen. Offensichtlich gilt das auch für die Politik – selbst für die Grünen. Sie wissen Busse und Bahnen zwar schon lange zu schätzen, aber auch ihnen scheint entgangen zu sein, welche Lasten sie den Verkehrsbetrieben mit der Dreimonatsaktion aufbürden.
Schon die Vorbereitung ist eine organisatorische Herausforderung. Einen bundesweit einheitlichen Deutschlandrabatt einzurichten ist alles andere als trivial. An den Details wird hektisch gearbeitet, Wissing will den Gesetzentwurf kommende Woche vorlegen. Die Unternehmen werden dann mitziehen, sie haben letztlich keine Wahl. Wenn die Politik quasi bedingungslos Geld des Steuerzahlers bereitstellt, wären die Verkehrsbetriebe verrückt, sich nach zwei Corona-Jahren mit extremem Fahrgastschwund der unverhofften Werbeaktion zu verschließen.
Sinnvoller wäre es trotzdem gewesen, die Milliarden zu nutzen, um den öffentlichen Nahverkehr dauerhaft attraktiver zu machen. Dazu braucht es intelligente Konzepte außerhalb der Großstädte. Immerhin bleibt die Hoffnung, dass die politische Aufmerksamkeit nach dem Ende des planlosen 9 -Euro-Experiments nicht verschwindet – und wenigstens danach beherzt am Ausbau des Angebots gearbeitet wird.
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