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#Preise, die sie nicht gewinnen

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„Preise, die sie nicht gewinnen“

Gibt es eigentlich auch Filme in Cannes, die einfach schön sind? Es gibt sie. In „Un beau matin“ von Mia Hansen-Løve spielt Léa Seydoux, die in David Cronenbergs „Crimes of the Future“ die heißkalte Skalpell-Schlitzerin gibt, eine alleinerziehende Mutter, die nach dem Tod ihres Lebensgefährten nach einem Neuanfang sucht. In einem Park in Paris begegnet sie ihrem alten Freund Clément (Melvil Poupaud, der Jüngling aus Eric Rohmers „Sommer“) wieder, der zwar verheiratet ist, sie aber trotzdem begehrt. Zugleich muss sie sich um ihren Vater (Pascal Greggory) kümmern, der an einer Krankheit leidet, die ihm seine Wahrnehmung und sein Gedächtnis raubt, was umso bitterer ist, als der alte Mann (der noch kein richtiger Greis ist) einmal ein berühmter Philosophieprofessor war.

Das klingt in der Nacherzählung nach einem Problemfilm, aber „Un beau matin“ ist das genaue Gegenteil: ein Film, der die Aufschwünge und Miseren seiner Figuren mit liebevollem, zutiefst mitfühlendem Blick betrachtet. Wie Hansen-Løve die verschiedenen Motive ihrer Geschichte im Gleichgewicht hält, ist bewundernswert, selbst wenn man weiß, dass ihr dieses Kunststück seit ihrem Regiedebüt vor fünfzehn Jahren schon mehrere Male gelungen ist. Im vergangenen Jahr war die französische Regisseurin mit dänischen Wurzeln mit der überspannten Kino-Hommage „Bergman Island“ im Wettbewerb von Cannes. „Un beau matin“, der in der Quinzaine des Réalisateurs läuft, ist der viel bessere Film, schon deshalb, weil er auf gelehrte Anspielungen verzichtet und sich ganz der teilnehmenden Beobachtung überlässt. Dass eine Bibliothek das wahre Porträt eines Menschen sei, das ist hier kein bloß dahingesagter Satz; man sieht es wirklich, als die Büchersammlung des Professors aufgelöst werden muss, weil er ins Pflegeheim zieht: Kafka, Goethe, Hannah Arendt, Nietzsche, Hegel, Hölderlin… „Aber er hat diese Bücher doch nicht geschrieben?“ – „Nein, aber er hat sie alle gelesen.“

Oder „Chronique d’une liaison passagère“ von Emmanuel Mouret. Seit zwanzig Jahren erzählt Mouret, der als Schauspieler angefangen hat, von Menschen, die sich begegnen, begehren und wieder verlieren, von Treue und Betrug, Spielerei und tückischem Ernst. Diesmal sind es Sandrine Kiberlain und Vincent Macaigne, die eine zwischen Routine und Leidenschaft schwankende Affäre haben, in der sie viel mehr von sich preisgibt als er, bis die beiden auf die fatale Idee kommen, im Internet eine Partnerin für eine Nacht zu dritt zu suchen. Sie finden eine scheue Literaturdozentin, die anfangs wie eine Fehlbesetzung in der Dreierphantasie wirkt, was aber eine Täuschung ist. Denn Charlotte/Kiberlain verliebt sich in die andere Frau, so dass die Karten neu gemischt werden und Simon, der anfangs so cool und abgeklärt wirkte, in die Rolle des Leidenden gerät.

Das alles hat man schon hundertmal gesehen, aber Mouret hat eine Art, das Alltägliche zum Schweben zu bringen, dass man dem Film alle seine Längen und Lücken verzeiht. Und weil der Regisseur in dem Schauspieler Vincent Macaigne seit einigen Jahren sein perfektes Alter Ego gefunden hat, gibt es einen Einklang zwischen dem Blick der Kamera und dem Spiel der Akteure, der im Kino selten ist. Das Zentrum des Films aber ist Sandrine Kiberlain, die alle auf ihre Figur gerichteten Projektionen, die sich aus der Konstellation Mouret/Macaigne ergeben, souverän an sich abprallen lässt. Sie ist die wahre Herrin dieser „Liaison passagère“.

Flüchtiges Begehren: Sandrine Kiberlain und Vincent Macaigne in „Chronique d’une liaison passagère“


Flüchtiges Begehren: Sandrine Kiberlain und Vincent Macaigne in „Chronique d’une liaison passagère“
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Bild: Festival de Cannes

Emily Atefs Film „Plus que jamais“ („Mehr denn je“) ist der einzige Beitrag einer deutschen Regisseurin im Hauptprogramm von Cannes. Vicky Krieps, die in Marie Kreutzers österreichischem Kostümdrama „Corsage“ eine auf #MeToo-Tempo beschleunigte Kaiserin Sissi spielt, ist bei Atef eine junge Frau, die sich auf ihren Tod vorbereitet. Hélène leidet an einer Krankheit, die ihre Atemwege zerstört, und hat nur noch wenige Monate zu leben. Statt sich wie ihr Lebensgefährte an die Hoffnung auf eine Lungentransplantation zu klammern, reist sie von Bordeaux mit dem Zug nach Norwegen, um einen Mann zu besuchen, den sie im Internet durch einen Blog für unheilbar Kranke kennengelernt hat.

Der Film will, dass wir die Landschaft der Fjorde und mit Heidekraut bedeckten Berge mit den Augen einer Sterbenden wahrnehmen, und das gelingt ihm. Was aber Vicky Krieps in „Plus que jamais“ gelingt, ist noch mehr. Sie lässt uns in die Seele eines Menschen blicken, der weiß, dass er zu früh gehen muss, und dennoch irgendwann begreift, dass es keinen Sinn mehr hat, sich zu wehren. Wie sie ihrem Lebensgefährten Matthieu allmählich beibringt, dass sie ihren letzten Weg allein beschreiten will, und dabei stufenweise von ihm Abschied nimmt, ist tief berührend und auf schmerzliche Weise tröstlich. Dass Gaspard Ulliel, der Darsteller Matthieus, im Januar mit siebenunddreißig Jahren an den Folgen eines Skiunfalls gestorben ist, gehört zu den Zufällen, die es im Leben und im Kino gibt. Dennoch muss man dauernd daran denken, dass man hier sein Gesicht zum letzten Mal auf einer Leinwand sieht.

„Plus que jamais“ und „Chronique d’une liaison passagère“ laufen in Cannes zwar im Hauptprogramm, aber nicht im Wettbewerb, sondern in der Reihe „Un certain regard“. Das ist gut so, denn so muss man sie nicht miteinander vergleichen. Und die Preise, die sie nicht gewinnen, tun ihnen nicht weh.

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