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#Reise in die eigene Vergangenheit

Reise in die eigene Vergangenheit

Während alle Welt „a-ha“ noch für eine norwegische Popgruppe hielt, praktizierte Andy Brettschneider (Charly Hübner) schon die neuen Infektionsschutzregeln (Abstand halten, Hygiene beachten, Alltagsmaske tragen). Dreißig Jahre Abstand hielt er zu den mecklenburgischen Jugendfreunden unmittelbar nach der aus dem Ruder gelaufenen Fußball-WM-Party im Wiedervereinigungssommer ’90. Am Morgen nach der Filmriss-Fete reiste er nach Frankreich, studierte, schaute nie mehr zurück. Persönliche Hygiene hieß für ihn, aller emotionalen Bindungen ledig zu sein, keine Familie zu haben, die Karriere zu verfolgen. Voraussetzung dafür war seine Alltagsmaske – die äußerlich rückstandsfreie Verwandlung des Handball-Teamplayers Andi mit der Ost-Schulclique in den zahlenfokussierten Investmentbanker Andy, der sich auf Start-ups im Feld neue Technologien verlegte. Jetzt, im „Corona-Sommer“ 2020, fährt er einen Tesla als Dienstwagen, hat mehrere Millionen auf dem Konto, eine „Feinkostplauze“ und steht kurz vor dem Sprung zum Geschäftsführer.

Eine Position, auf die Kollegin Bea (Lisa Maria Potthoff) sich gleichermaßen Hoffnung macht. Das Fünf-Minuten-Firmenmeeting im Frankfurter Restaurant, bei dem er ein goldüberzogenes Filet bestellt, einfach, weil er es kann, verläuft nicht nach Plan. Der Chef (Stephan Schad) hat einen anonymen Brief dabei – eine Botschaft aus der Vergangenheit. Im Sommer 90 habe Andy eine Frau vergewaltigt. Füße stillhalten, dem bekannten Anwaltstrickser vertrauen, Karriere retten, weist der Chef an. Doch das ist nicht Andys Art. Erst besucht er seine Mutter (Walfriede Schmitt), für die er immer „Mops“ geblieben ist. Und fährt anschließend von der hessischen Provinz aus immer tiefer in den Osten zurück, zu den erfüllten und gescheiterten Lebensträumen der DDR-Jugendfreunde, denen die Welt offenstand wie ihm. Von denen keiner seine Chance ergriffen hat wie er, meint Andy, sich noch in Sicherheit wiegend.

Sichtbar gedreht unter Corona-Bedingungen

Frankfurt, Fulda, Salzgitter, Neuruppin, Leipzig, Grievow in Mecklenburg – „Für immer Sommer 90“ ist einerseits ein besonderes Roadmovie. Besonders, denn es wurde in der Tat im Sommer 20, „unter Corona-Bedingungen“, wie man in Fernsehfilm-Produktionsnotizen nun immer öfter liest, gedreht. Komparsen, Passanten tragen Mund-Nase-Schutz; Andys Autofahrt zu den Menschen seiner Jugend führt ihn zu Ex-Freunden, mit denen höchstens ein Ellbogencheck angemessen scheint – was freilich die ein oder andere Erinnerungsumarmung mit einschließt. Nähe als Risiko, Abstand als Zeichen auch der Selbst- und Geschichtsvergessenheit – dieser Film macht aus der gegenwärtigen Pandemienot eine stimmige Binnenerzählung. Andererseits ist „Für immer Sommer 90“ ein gelungenes Improvisationsstück. Die Rollenprofile und großen Handlungslinien stammen wesentlich von Charly Hübner selbst, darüber hinaus von Lars Jessen und dem Improvisations-Routinier Jan Georg Schütte (der in zwei Cameo-Rollen auftritt, unter anderem als Grillstation-Gedächtnisgenie).

Improvisation im Fernsehspielfilm ist ein zweischneidiges Schwert. Das kann gruselig bemüht sein, wie SWR-„Tatort“- Fans vor einiger Zeit sehen mussten. Bei ausgefuchster Spielanordnung mit entsprechend begabten Schauspielerinnen und Schauspielern kann das Prinzip, jede Szene nur einmal zu drehen, auch überraschende Funken sprühen. Ebenfalls im „Tatort“ zeigte ein großes Ensemble zur Jahreswende, wie überraschend eine Mörderhatz in einem verlassenen Hotel aussehen kann, wenn selbst die Darsteller mit immer neuen Entwicklungsdetails überrascht werden. Auch der „Tatort: Das Team“ stammte von Jan Georg Schütte (Buch und Regie), genau wie „Klassentreffen“ oder „Altersglühen“. In „Für immer Sommer 90“ führen Jessen und Schütte gemeinsam Regie. Wobei für die eigentliche Regie Charly Hübners aus seiner mecklenburgischen Jugend destillierte Spielfiguren verantwortlich sind.

Damit das nicht wie Schauspielschule aussieht, braucht es Kreativkünstler – keine Dialognachsprecher, sondern Rollengestalter. Mit Hübner selbst, Lisa Maria Potthoff, Deborah Kaufmann als Urologen-Sprechstundenhilfe, die einst Schauspielerin in L.A. werden wollte, Roman Knizka als Versicherungsvertreter auf Speed, Christina Große als feministischer Bloggerin, Stephanie Stappenbeck als in der Vergangenheit Festsitzender, Karoline Schuch als heimatverbundener Unternehmerin und Peter Schneider als seelisch versehrtem Ex-Soldaten, der im Kosovo und in Afghanistan seinem neuen Land bis zum Selbstverlust diente, sieht das Improvisieren hier meistens formidabel aus. Gelegentlich gibt es verblüffende Spielpausen, die wie luftige Gedankenplatzhalter wirken (Kamera Moritz Schultheiß, Schnitt Sebastian Thümler, Heike Gnida, Ulf Albert). Für die passende Erinnerungsstimmung sorgen die Musik von Jakob Ilja und die Songs von „Ton Steine Scherben“, Gundermann und Rio Reiser, von Peter Schneider gesungen. Einen bemerkenswerten Miniauftritt hat Bozidar Kocevski als Andys Parkplatz-Zufallsbekanntschaft. Mit der genauen Schilderung des Schlachtablaufs in seinem Fleischverarbeitungs-Großbetrieb verdirbt er Andy die Lust auf das labbrige Leberkäsbrötchen von der Tanke.

Als vierteilige Miniserie in der ARD-Mediathek (jede Folge à 22 Minuten), die sich von Begegnung zu Begegnung tiefer in die Biographien gräbt, funktioniert „Für immer Sommer 90“ noch ein bisschen besser als im Spielfilmformat.

Für immer Sommer 90 läuft um 20.15 Uhr im Ersten, als Vierteiler in der ARD-Mediathek.

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