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#Schönheitssuche in Lindenholz

„Schönheitssuche in Lindenholz“

Ausgerechnet in den politisch bewegten Siebzigern kam in Künstlerkreisen ein längst überholt geglaubtes Buch der Kunstgeschichte wieder zu Ehren: Alois Riegls Standardwerk „Das holländische Gruppenporträt“ von 1902. Viele Maler konterfeiten, von Riegl inspiriert, ihre Freunde, Genossen, Kollektive in Öl. So auch der 1930 geborene Schweizer Maler und Druckgrafiker Franz Gertsch, der mit dem Historienformat „Medici“ 1972 auf der Documenta 5 in Kassel seinen internationalen Durchbruch feierte. Auf gigantischen vier mal sechs Metern lehnten sich auf dem Bild fünf nebeneinander aufgereihte Jugendliche gegen eine Absperrung in Rot-Weiß. Es handelt sich um die Aufbruch ausstrahlende Entourage von Gertsch’ Künstlerbekanntem Luciano Castelli. Er wolle Leben einfangen, sagte Gertsch einmal, mit „Medici“ ist ihm dies gültig gelungen. Die Dispersionsfarbe auf ungrundiertem Halbleinen, der Gertsch lange treu blieb, sorgte für das paradoxe Vexierspiel zwischen überzogen falsch wirkendem Hautglanz und ehrlicher Sprödigkeit des die Farbe schluckenden Trägermaterials.

Selbst das Werk „Luciano I“, auf dem ebenjener „Medici“-Castelli, der in seiner Tadziohaftigkeit Thomas Mann in die Ekstase getrieben hätte, gelangweilt vor einer mit umgekippten Tassen und einem gerade noch prekär an der Tischkante balancierenden Rotweinglas überhäuften Festtafel sitzt, weist mit den unübersehbaren Orgienspuren auf eines hin: Viele haben hier gefeiert. Zurück jedoch bleibt ein Vereinzelter. Und Gertsch’ Großformat „Vietnam“ von 1970 gleicht in seiner chaotischen Verknäuelung verwundeter GIs zu einem Körper eher Rembrandts Nachtwache als einem anklagenden Bild.

Eine meisterliche Detailfülle

Es folgten weitere Gruppen- und Einzelporträts von Künstlerfreunden sowie Familienporträts und auch eine komplette Serie der Musikikone und Rockpoetin Patti Smith in den späten Siebzigerjahren, dazu Selbstbildnisse. Von 1980 an widmete sich Gertsch dann hyperrealistischen, nach eigenen Fotovorlagen gefertigten Einzeldarstellungen junger Frauen, deren makellose Gesichter er im Blow-up-Effekt metergroß aufzog. Gertsch war damit der reflektierte Renaissancemaler der Achtundsechzigergeneration, der wider den Zeitgeist die Schönheit in den ins Monumentalformat gesteigertem Gesichtern suchte, auch Musik und Tanz in figürlicher Form wieder zum Thema machte.

Franz Gertsch: „Luciano I“ (1976)



Bilderstrecke



Chronist des Aufbruchs
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Werke von Franz Gertsch

Aber nicht nur die unausschöpfliche Faszination des menschlichen Gesichts trieb ihn zeitlebens um; in seinen „Grasbildern“ wurde die Schönheit dessen, was üblicherweise achtlos mit Füßen getreten wird, durch die hundertfache Vergrößerung evident. Zugleich standen aber auch die überdimensionierten und komplex verdschungelten Halme, die den Betrachter gewissermaßen in die Perspektive von Biene Maja und Grashüpfer Flip versetzten, wieder in einer alten Tradition der Kunst, jene der barocken Sottobosco-Malerei nämlich, die uns die Waldbodenstillleben des Unterholzes in meisterlicher Detailfülle von der kleinsten Schnecke bis zum absonderlichsten Gewächs gleichsam mikro­skopisch nahebringen. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass es bei Gertsch häufig die wesentlich aufwendigere Technik des Holzschnitts war, in der er den Massenauflauf von Grashalmen in nur einer Farbe porträtierte.

Derart monumentale Natur im Holzschnitt hielt vor ihm keiner fest

Für diese Holzschnitte der Achtziger und Neunziger entwickelte er eine eigene Technik. Auf Vorlage ebenfalls selbst gefertigter Fotografien hob er Lichtpunkt um Lichtpunkt mit dem Hohleisen aus Lindenholz heraus, die dann im monochromen Druck hell erscheinen. Aus der Distanz ziehen sich die unzähligen kleinen Lichtpunkte pointillistisch zu einer gegenständlichen Abbildung zusammen.

Als Gertsch 2002 im schweizerischen Burgdorf ein Museum seines Namens eröffnete, das 2019 noch erweitert wurde, fürchteten manche (die den von Natur aus Bescheidenen nicht kannten), es könne ein hypertrophes Mausoleum werden und das Werk wie eine Grabplatte beschließen. Glücklicherweise war das Gegenteil der Fall. Der Künstler fühlte sich angespornt, über all die Jahre hinweg neue Werke und gar Zyklen für das Haus zu schaffen, die in den vielen Ausstellungen dort als Erstes gezeigt wurden.

Ähnlich wie der vor Kurzem mit 102 Jahren verstorbene und bis zuletzt malende Pierre Soulages konnte auch Franz Gertsch bis kurz vor seinem Tod noch malen. Man darf sich den nun mit 92 Jahren Gestorbenen als glücklichen Menschen vorstellen.

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