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#Revolution, unvollendet

„Revolution, unvollendet“

Die Folgen der friedlichen Proteste in Belarus sind durch den Ukrainekrieg medial kaum noch präsent. Dabei bereitete die Niederschlagung der Zivilgesellschaft im nördlichen Nachbarland der Ukraine das Aufmarschgebiet für den russischen Aggressor vor, und viele geflohene oder in innerer Emigration lebende Belarussen versuchen, die Solidaritätserfahrung von vor zwei Jahren als geistiges Gut zu bewahren. Daran erinnerte jetzt der aus Belarus stammende Dirigent Vitali Alekseenok, designierter Ka­pellmeister der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf, der auch viel in der Ukraine arbeitet, mit einem Konzert im Rahmen der Ludwigsburger Schlossfestspiele. Der Abend namens „Die unvollendete Revolution“ würdigte insbesondere die Oppositionsführerin und Flötistin Maria Kolesnikowa, die eng mit Stuttgart verbunden ist und jetzt im Straflager von Gomel einsitzt.

Als lyrisches Herzstück spielte Guillermo González das Solowerk „Air“ von Toru Takemitsu auf Kolesnikowas in Deutschland verbliebener Flöte und vergegenwärtigte durch den anmutig gebauten Monolog auch den freien Atem, den man den politischen Gefangenen in Belarus wünschen möchte. Flankierend verlas Alekseenok Passagen aus Kolesnikowas Briefen aus dem Gefängnis. Darin bezeugt sie, dass es in der Haft tatsächlich an Luft, an Musik und vielem anderen mangele, aber auch dass die Kunst und zumal die Musik, welche sie in ihrem Innern trage, sie in­spi­riere und stärker als die Angst oder das Böse mache.

Das Hauptstück war die Uraufführung der Neufassung eines Triptychons von Orchesterliedern namens „Geschichte der Gegenwart“, das drei belarussische Komponisten im Auftrag von Alekseenok im vergangenen Jahr geschrieben hatten. Der Dirigent, der im Sommer 2020 nach Minsk zurückkehrte und sich an den Kundgebungen beteiligte, legt Wert auf die kollektive Autorschaft des Werks – in Analogie zu der Volkser­hebung damals, die von der Gesamtgesellschaft getragen worden sei.

Die noch in Belarus lebenden Künstler müssen anonym bleiben

Eingangs spielt das gut aufgelegte Or­chester der Schlossfestspiele unter Alekseenok die romantisch rhapsodische Komposition „Versuch in Ah­nenforschung“ des nach Polen emi­grierten Belarussen Konstantin Yaskou. Der Bariton Äneas Humm singt dazu in lyrischen Kantilenen Verse der in den USA lebenden belarussischen Dichterin Valzhyna Mort, die in Sprachbildern die Gewaltgeschichte ihres Landes beschwören, wobei die Gesangspartie immer wieder ins liturgische Psalmodieren auf einem Ton verfällt wie im orthodoxen Gottesdienst.

Guillermo González spielt auf der Flöte von Maria Kolesnikowa.


Guillermo González spielt auf der Flöte von Maria Kolesnikowa.
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Bild: Reiner Pfisterer

Der zweite Satz „Vers“, der in flirrenden Schichtklängen der Streicher nebulöse Angstzustände vergegenwärtigt, ist anonym, weil Komponist und Textdichter weiter in Belarus le­ben. Dissonante Trompetensignale und dumpfe Paukenschläge machen Gefahren ohrenfällig, während Humm mit vorzüglicher Diktion die Stimme zum Flüstern herabdimmend die tiefste Finsternis besingt, in der ei­nem plötzlich jemand die Hand drückt. Das Finale ist flächige, aber beredte Minimal Music von Olga Podgaiskaya, die ebenfalls aus Minsk nach Polen umgezogen ist. Der Orchestersatz ruft mit Sirenenklängen im Blech und Paukenschlägen die Bedrohung durch die Polizei während der Massenproteste jener Augusttage wach, während die Holzbläser ferne Autohupen simulieren, womit Chauffeure ihre Solidarität zum Ausdruck brachten. Der Liedtext von Alhierd Bacharevic, der heute in Graz lebt, be­schwört die „Stadt als Fluss“, in der die Staudämme routinemäßiger Re­pression plötzlich durchbrochen werden von unbewaffneten Menschen, deren Empörung größer ist als ihre begründete Furcht.

Schlüssigerweise ließ Alekseenok Franz Schuberts „Unvollendete“ Symphonie in h-Moll das Schlusswort sprechen. Wie nach der zauberisch fahlen Einleitung das lyrische Thema erst beinahe wie eine Volksweise klingt, das zweite Mal als Sehnsuchtsmotiv und schließlich – nach diversen Zusammenbrüchen – wie eine melancholische Erinnerung, das schien auch Alekseenoks Hoffnung zu be­schwören, dass die Leiden seiner Landsleute nicht umsonst waren und dass eine Nationwerdung, vorerst im Geist, stattgefunden habe.

Da die Zuhörer, unter ihnen etliche Geflüchtete aus der Ukraine, sich beim Schlussjubel von den Plätzen erhoben, ließ Alekseenok noch das dunkel schillernde Nocturne für Streichorchester von dem Ukrainer Fjodor Akimenko spielen, bei dem einst Igor Strawinsky studierte. Das Konzert ist bis zum 8. Dezember bei Arte nachzuhören.

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