Nachrichten

30 Jahre Oklahoma-City-Anschlag: McVeighs dunkles Erbe

Phil Bacharach wollte gerade zur Arbeit aufbrechen. Plötzlich spürte er eine Erschütterung. Zunächst dachte er an einen Überschallknall. Er schaltete dann aber doch den lokalen Fernsehsender ein. Es war der 19. April 1995, kurz nach neun Uhr in Oklahoma City. Die Bilder, die Bacharach bald darauf sah, konnte er nicht fassen. Eine heftige Explosion hatte ein Drittel des Alfred P. Murrah Federal Building in der Innenstadt zerstört. Bacharach, zwölf Meilen entfernt, sprang in sein Auto. Der Reporter der „Oklahoma Gazette“ wollte zum Unfallort. Noch hielt er das zerstörte neunstöckige Gebäude, Sitz mehrerer Bundesbehörden, für einen solchen.

Dreißig Jahre später. An einem sonnigen Frühjahrstag skaten einige Jungs auf Treppenstufen unweit des Oklahoma National City Memorials. Familien laufen durch den Park, vor dem Museumseingang steht eine Schulklasse in der Schlange. Nach dem Abriss der Ruine war die Gedenkstätte errichtet worden. Zwei große Tore mit den Uhrzeiten 9.01 und 9.03, dazwischen ein Teich und 168 Stühle – für jedes Todesopfer einer. 19 Stühle sind kleiner als die anderen. In dem Gebäude befand sich auch eine Kindertagesstätte.

Um 9.02 Uhr an jenem 19. April war eine Bombe in einem gemieteten Transporter vor dem Bürogebäude explodiert – hergestellt aus 2,4 Tonnen Ammoniumnitrat und Hunderten Liter Nitromethan. Es ist bis heute die schwerste inlandster­roristische Tat in der Geschichte Amerikas. Begangen wurde sie von Timothy McVeigh, einem 27 Jahre alten Kriegs­veteranen aus dem Bundesstaat New York. Beteiligt war auch Terry Nichols. Die beiden hatten sich in der Armee kennengelernt. Erst wurden sie Freunde. Dann Komplizen.

Das Oklahoma National City Memorial
Das Oklahoma National City MemorialPicture Alliance

Bacharach sitzt in einem Café in OKC, wie die Bewohner den Namen ihrer Stadt abkürzen. Sein Arbeitsplatz ist nicht weit entfernt. Den Journalismus hat der heute 59 Jahre alte Vater zweier Kinder schon vor Jahren aufgegeben. Er war einige Zeit Sprecher des Gouverneurs des Südstaates. Inzwischen ist er Kommunikationschef des Justizministers. Oklahoma ist ein tiefroter Bundesstaat, die Republikaner besetzen alle Wahlämter. Bacharach selbst ist kein Konservativer.

Das „Oklahoma City Bombing“ veränderte sein Leben. Über Jahre recherchierte er zu dem Anschlag. Für seine Zeitung begleitete er den Fall. Er schrieb über die Rettungs- und Bergungsaktion, über die Festnahme McVeighs neunzig Minuten nach der Tat, über die Ermittlungen und den Prozess – und am Ende, 2001, über die Hinrichtung McVeighs. Er lernte dessen Eltern kennen und eine der beiden Schwestern. Zudem war er einer der wenigen, die mit McVeigh selbst in Kontakt standen. Zwei Jahre lang schrieben sie einander Briefe.

Sie fingen an, einander zu schreiben

McVeighs Verteidiger hatte Bacharach bald nach der Festnahme kontaktiert. Er lud ihn mit anderen Journalisten zu ei­nem Gespräch mit dem Häftling ein. Es durfte über alles gesprochen werden, außer über die Tat. Ziel des Anwalts war es, eine vertrauenswürdige Person für ein Interview zu finden. Er wollte dem Bild etwas entgegensetzen, das in der Öffentlichkeit von seinem Mandanten gezeichnet wurde: das eines rechtsradikalen Monsters. Den Zuschlag zum Interview erhielt ein anderer Journalist. Doch McVeigh fing an, Bacharach zu schreiben. Dieser las seine Berichte in der „Oklahoma Gazette“, und sie waren im gleichen Alter. Er traute ihm. Dass Bacharach aus einer jüdischen Familie kam, störte McVeigh nicht.

Phil Bacharach
Phil BacharachMajid Sattar

McVeigh beklagte sich in den Briefen über das Leben im Hochsicherheitsgefängnis und über den Dreck in seiner Zelle. Er machte Scherze über die Simpsons und andere Fernsehsendungen, die er sich ansah. „In den Briefen findet man keinen Hinweis auf das Tatmotiv“, sagt Bacharach. Doch es sei offenkundig gewesen, dass McVeigh die Regierung hasste. Er habe das FBI gehasst, und das ATF, die Behörde, die unter anderem für die Bekämpfung des Waffenschmuggels zuständig ist. Er habe sich im Geist von 1776 gesehen, der amerikanischen Revolution, sagt Bacharach.

Aus seiner Geisteshaltung machte McVeigh kein Geheimnis. Er sah die Tat als seine patriotische Pflicht. Seinen Anwalt, der nach einer Verteidigungsstrategie suchte, verwies er auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Er solle nicht nur den bekannten Teil lesen. Die Gründerväter hätten nämlich nicht nur festgestellt, dass alle Menschen gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet seien, darunter Leben, Freiheit und das Streben nach Glück. Sondern auch: Dass es das Recht des Volkes sei, eine Regierungsform abzuschaffen, die sich als schädlich für diese Zwecke erweise.

In McVeighs Denken war der 19. April ein bedeutsames Datum. Der Tag, an dem er die Bombe zündete, war nicht nur der 220. Jahrestag der Schlachten von Lexington und Concord, mit denen die ameri­kanische Revolution begann. Er war auch der zweite Jahrestag der gescheiterten Räumung von Mount Carmel im texanischen Waco, der Siedlung der Sekte der Branch Davidians. Nach 51 Tagen Belagerung endete die Operation von Spezialkräften in einem Feuerinferno; 76 Mitglieder der Sekte kamen in den Flammen oder durch Schüsse zu Tode. Unter Rechtsextremen verbreitete sich schnell die Verschwörungstheorie, die Aktion sei Teil eines Versuchs der Regierung gewesen, den Amerikanern ihre Freiheitsrechte zu rauben, vor allem das Recht, Waffen zu tragen. Das Inferno spielte in McVeighs Briefen eine große Rolle. In seiner allmählichen Radikalisierung war Waco eine Wegmarke. Und von dort führt auch eine Verbindung zum Ort des Anschlags.

Das Alfred P. Murrah Federal Building am Tag des Anschlags
Das Alfred P. Murrah Federal Building am Tag des AnschlagsPicture Alliance

Phil Bacharach hat sich immer wieder gefragt, ob McVeigh das Murrah-Gebäude auswählte, weil er annahm, es habe auch die FBI-Zweigstelle von Oklahoma beherbergt. Deren Chef war damals Bob Ricks, der zwei Jahre zuvor als FBI-Sprecher in Waco das Gesicht des Einsatzes war. In seinen Briefen habe McVeigh Ricks immer wieder erwähnt, sagt Bacharach. Tatsächlich waren in dem Gebäude zwar unter anderem der Secret Service und das ATF-Büro untergebracht, nicht aber das FBI. Diesen Fehler konnte McVeigh, der sich für ausgefuchst hielt, nicht eingestehen. Der Bombenanschlag war aber ohnehin mehr als eine reine Racheaktion. Bacharach sagt: „McVeigh wollte einen Bürgerkrieg auslösen.“

Wer war Timothy McVeigh? Was machte ihn zum Massenmörder? Sein Leben ist kriminalistisch so durchleuchtet worden wie das keines anderen Amerikaners. Der Journalist Jeffrey Toobin ist der Verfasser des jüngsten Buches über ihn: „Homegrown“. Es ist nicht nur ein Werk über einen jungen, orientierungslosen und verletzten Mann, der zum Terroristen wird. Sondern auch eines über den Rechtsextremismus in Amerika. Diesem wurde in den Jahren nach 9/11, als die Sicherheitsbehörden sich auf den islamischen Fundamentalismus konzentrierten, wenig Beachtung geschenkt. Seither hat der Rechtsextremismus an Stärke gewonnen, und heute ist er Teil der Bewegung Donald Trumps. Dadurch hat sich etwas verschoben: Der Feind ist jetzt nicht mehr die Regierung, sondern nur noch der Verwaltungsstaat.

Eine Biographie wie die Kapitolstürmer

Bacharach ist sich sicher: Hätte McVeigh den Anschlag nicht begangen und wäre er dafür nicht eingesperrt und hingerichtet worden, er wäre am 6. Januar 2021 im Kapitol gewesen. Tatsächlich gleicht seine Biographie in vielen Details jener der Kapitolstürmer: Männer mit Militärerfahrung.

McVeigh wurde 1968 in der Nähe von Buffalo geboren. In Upstate New York, unweit der Niagarafälle, wuchs er auch auf. Hier ist der Bundesstaat ländlich, konservativ und weiß. Die Städte, Buffalo und Rochester, gehören zum Rostgürtel. McVeighs Vater Bill arbeitete in der Automobilzulieferindustrie, die einst Wohlstand in die Region gebracht hatte, mit der Zeit aber in die Krise geriet. Mutter Noreen, genannt Mickey, hatte einen Teilzeitjob in einem Reisebüro. Die McVeighs, Katholiken mit irischen Wurzeln, gehörten der unteren Mittelschicht an.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Tim war das zweite von drei Kindern. Er spielte an seinem Commodore-64-Computer, mochte Clint-Eastwood-Filme und Rambo. Er war unauffällig, aber durchaus beliebt in der Nachbarschaft. Alles ganz normal. Die Beziehung der Eltern funktionierte irgendwann nicht mehr, über Jahre lebten sie mehr neben- als miteinander. Als es zum Bruch kam, zog Mickey mit den beiden Töchtern aus. Tim blieb beim Vater. Dass seine Mutter ihn zurückließ, verletzte ihn sehr. Er hegte eine enorme Wut auf sie. Das Leben mit dem Vater war einsam. Tim entwickelte, wie viele Jungs im ländlichen Amerika, ein Interesse an Waffen. Mit 15 machte er den Jagdschein, wobei ihn die Jagd gar nicht interessierte, sondern nur die Waffen und das Schießen. Um an Geld für sein Hobby zu kommen, jobbte er beim örtlichen Burger King. Das Waffensammeln wurde zur Obsession.

Als Tim 1986 seinen Highschool-Abschluss machte, schrieb er unter sein Jahrbuch-Foto: „Nimm’s, wie’s kommt, kauf ’nen Lamborghini, California girls“. Eine Freundin hatte er nicht. Seinen ersten Sex hatte er mit einer älteren, verheirateten Frau, die auch bei Burger King arbeitete. Nach der Highschool wusste er nichts mit sich und seinem Leben anzufangen. Er trat der National Rifle Association bei und fing an, das Vereinsmagazin zu lesen: „The American Hunter“. Darin stieß er auf eine Anzeige für ein Buch: „The Turner Diaries“. Die Lektüre sollte sein politisches Erweckungserlebnis werden.

Der Verfasser, ein Rechtsradikaler namens William Luther Pierce, schrieb den 1978 veröffentlichten Roman unter dem Pseudonym Andrew McDonald. Als Tagebuch verfasst, handelt er von einer gewaltsamen Revolution gegen die ameri­kanische Regierung, die in einen Rassenkrieg mündet, in dem alle Nichtweißen und Juden ausgelöscht werden. McVeigh las das Buch nicht nur. Er studierte es, wie er einem Freund schrieb. In ihm wuchs nun der Glaube, er habe eine Mission.

McVeigh wurde ehrenhaft aus der Armee entlassen

1988 trat McVeigh in die Armee ein. In der Ausbildung in Georgia lernte er Terry Nichols kennen, 13 Jahre älter und auf­gewachsen auf einer Farm im ländlichen Michigan. Nichols war begabt, ging aufs College und träumte davon, später Zahnarzt zu werden. Doch brach er das Studium schon nach einem Semester ab. Zu Hause lief vieles schief. Die Eltern trennten sich. Sein Bruder verletzte sich lebensgefährlich beim Schweißen. Nichols half längere Zeit auf der Farm aus, heiratete eine zweifach geschiedene Frau mit zwei Kindern und bekam ein eigenes Kind.

McVeigh und Nichols wurden gemeinsam in Kansas stationiert. Doch der ältere Freund tat sich körperlich schwer. Außerdem ging seine Ehe in die Brüche. Er schied aus dem Militär aus. Der Kontakt zu McVeigh, auf den bald ein Einsatz im ersten Golfkrieg zukommen sollte, blieb aber bestehen. Nichols heiratete später ein zweites Mal: eine siebzehnjährige „mail-order bride“, ein Mädchen aus den Philippinen, das er sich im Katalog ausgesucht hatte.

Bei der Befreiung Kuwaits kam McVeigh als Panzerschütze zum Einsatz und wurde ausgezeichnet. Später erzählte er, dass ihn das Gemetzel, die vielen toten Iraker, schockiert habe. Nach dem Krieg bewarb er sich zunächst bei einer Spezialkräfteeinheit, den Green Berets, zog aber nach zwei Tagen des Auswahlprogramms zurück, da er befand, physisch nicht in der richtigen Verfassung zu sein. Er wurde ehrenhaft aus der Armee entlassen.

Zeuge des Waco-Infernos

Bacharach sagt, danach habe die Wandererphase in McVeighs Leben begonnen: Er fuhr quer durchs Land, besuchte Nichols in Michigan, jobbte, fuhr von Gun-Show zu Gun-Show, wo er auch Jobs annahm und Exemplare der „Turner Diaries“ verkaufte. 1993 fuhr er während der Belagerung der verschanzten Sekte der Branch Davidians nach Waco. Er wollte seine Solidarität mit der Sekte ausdrücken, die sich gegen die Staatsgewalt zur Wehr setzte. McVeigh verteilte Aufkleber mit der Aufschrift: „Wenn Waffen geächtet werden, werde ich zum Geächteten“. Er wurde Zeuge des Infernos.

In Arizona besuchte er später einen anderen Kameraden aus Armeezeiten, Michael Fortier, und experimentierte mit Drogen. Fortiers Sache waren vor allem Drogen, der Kampf gegen die Staatsgewalt war es weniger. Als McVeigh ihn in seine Pläne einweihte, ein Behördengebäude in die Luft zu sprengen, winkte er ab: Er werde da nicht mitmachen. Nichols stieg erst sehr viel später aus – nach dem Bau der Bombe. Deshalb wurde er später als Mitverschwörer zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Fortier, der am Ende gegen McVeigh und Nichols aussagte, musste dagegen nur für zwölf Jahre ins Gefängnis und nahm anschließend über ein Zeugenschutzprogramm eine neue Identität an. McVeigh wurde im Juni 2001, drei Monate vor 9/11, in einer Vollzugsanstalt in Indiana durch eine tödliche Injektion hingerichtet – als erste Person nach Bundesrecht seit 1963.

Sie nennen sich „Verteidiger der Freiheit“

Das, wofür Timothy McVeigh stand, lebte aber fort, auch wenn es sich nach seinem Anschlag eine Zeit lang verbarg. Das zeigt sich auch in der Familie von McVeighs Komplizen. Terry Nichols Brüder hatten sich zwischenzeitlich der „Michigan Militia“ angeschlossen, wurden dort aber ob ihrer extremen Ansichten rausgeworfen. Die Miliz war 1994, ein Jahr vor dem Attentat, gegründet worden und soll über bis zu 10.000 Mitglieder verfügt haben. Infolge des Attentats und wegen der Verbindung zur Nichols-Familie verlor sie aber fast alle. Überhaupt gingen die Milizen Amerikas nun in Deckung. Dann kam der 11. September, und die Sicherheitsbehörden hatten andere Sorgen.

In Michigan gibt es heute drei Dutzend Milizen. Eine davon: die „Wolverine Watch­men“. Die Gruppe flog 2020 auf, als sie plante, die demokratische Gou­verneurin Gretchen Whitmer während der Pandemie zu entführen und zu töten. Um gegen deren Lockdown-Maßnahmen zu demonstrieren, war es schon Monate vorher – nachdem Trump „Liberate Michigan“ getwittert hatte – zur Belagerung des Landesparlaments in der Hauptstadt Lansing gekommen. Unter den Demons­tranten: die „Michigan Liberty Militia“. Später wurde das „State Capitol“ von bewaffneten Milizionären in Tarnkleidung gestürmt. Es war eine Art Generalprobe für den 6. Januar 2021, als ein ge­walttätiger Mob von Trump-Anhängern das Kapitol in Washington stürmte, wo Joe Bidens Wahlsieg beglaubigt werden sollte.

Über Wochen hatten die rechtsextremen „Oath Keepers“ und „Proud Boys“ die Aktion vorbereitet – im Namen der Revolution von 1776, wie einst McVeigh. Deren Anführer Stewart Rhodes und Enrique Tarrio wurden später wegen aufrührerischer Verschwörung zu Haftstrafen von 18 und 22 Jahren verurteilt. Trump begnadigte sie, wie fast alle Kapitolstürmer, nach seiner Rückkehr ins Weiße Haus. Als der Präsident im Februar auf der CPAC-Konferenz sprach, wo sich seine Anhänger versammelten, erschienen auch Rhodes und Tarrio gemeinsam mit anderen „J6“-Leuten, wie sie in der Szene genannt werden. Stolz verteilten sie Flyer. Sie nennen sich „Defenders of liberty“. Verteidiger der Freiheit.

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!