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#Srebrenica brachte die Wende

Srebrenica brachte die Wende

In der Debatte über Robert Habecks Eintreten für die Lieferung von „Defensivwaffen“ an die Ukraine hallen bei den Grünen Diskussionen wider, die in der ersten Hälfte der neunziger Jahre eine Zerreißprobe für die Partei waren. Angesichts der Kriegsgreuel in Bosnien-Hercegovina musste die Partei damals ihr Verhältnis zum Militär und zum Einsatz von Gewalt klären. Die Grünen rangen heftig mit sich selbst. In innerparteilichen Kämpfen, die mit großem rhetorischen Kaliber ausgetragen wurden, ging es um moralische Fragen, die Anerkennung von Realitäten, weltanschauliche Selbstvergewisserung und nicht zuletzt um die eigenen Regierungsfähigkeit.

Unter dem Eindruck der von serbischen Milizen verübten Verbrechen und schließlich des Völkermords von Srebrenica im Juli 1995 vollzogen die Grünen innerhalb von zwei Jahren eine Kehrtwende: von der Forderung nach Auflösung der Bundeswehr zur Zustimmung zu Auslandseinsätzen deutscher Soldaten in UN-Missionen.

UN-Truppen sollten keine Waffen einsetzen dürfen

In manchen der reflexhaft ablehnenden Reaktionen von Grünenpolitikern auf die Äußerungen ihres Ko-Vorsitzenden Habeck kamen die Restbestände jener kategorisch pazifistischen Haltung wieder an die Oberfläche, die das Selbstverständnis der Partei in den ersten anderthalb Jahrzehnten ihres Bestehens bestimmt hatten: Sie bestehen in der Weigerung, überhaupt die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass der Einsatz von Militär dazu beitragen kann, einen Konflikt einzudämmen, Menschenleben zu retten und vielleicht den Weg zu einer politischen Lösung zu eröffnen.

Auf einem Sonderparteitag der Grünen im Oktober 1993 klang das so: Auch angesichts des „faschistischen Genozids“ an den Bosniern durch serbische Milizen sei ein Abweichen von einer konsequent pazifistischen Haltung nicht möglich, „weil sonst ein für allemal die Gewaltfreiheit als Utopie der universellen Garantie der Menschenrechte verloren“ wäre. Selbst den UN-Truppen, die damals bereits zum Schutz der Zivilbevölkerung in Bosnien waren, wollte eine überwältigende Mehrheit nicht das Recht zugestehen, Waffen zur Selbstverteidigung einzusetzen.

Nur eine kleine Minderheit – nicht ganz ein Zehntel der 500 Delegierten – , trat dafür ein, den Frieden in Bosnien militärisch zu erzwingen. Unter ihnen waren neben einigen prominenten westdeutschen Grünen wie Daniel Cohn-Bendit und dem damaligen Bremer Senator Ralf Fücks vor allem solche Parteimitglieder, die der Bürgerrechtsbewegung in der DDR entstammten oder wie der Exil-Tscheche Milan Horáček andere Erfahrungen mit den gerade erst gestürzten kommunistischen Diktaturen Osteuropas gemacht hatten. Cohn-Bendit wies auf dem Parteitag 1993 auf seine jüdische Abstammung hin und sagte, die Grünen sollten sich nicht in eine „Tradition des Appeasements“ stellen, „die zur Vernichtung der Juden geführt hat“.

Parteifreunde als „Kriegstreiber“ beschimpft

Er ging darauf ein, dass zwei Prinzipien in Widerspruch zueinander geraten konnten, die beide konstitutiv für das Selbstverständnis der Grünen waren: die Ablehnung jeglicher kriegerischer Handlung und die Ablehnung des Nationalsozialismus. Die Mehrheit wollte das jedoch nicht zur Kenntnis nehmen und nahm einen Beschluss an, in dem unverbunden nebeneinander stand: „Die wichtigste Konsequenz aus der deutschen Geschichte lautet für uns: Nie wieder Krieg. Aber sie lautet gleichzeitig auch: Nie wieder Auschwitz.“

Die als „Bellizisten“ und „Kriegstreiber“ beschimpfte Minderheit vertrat ihre Position auch nach dem Parteitag offensiv. „Unser Hauptmotiv war damals: In Bosnien-Hercegovina musste das multikulturelle Europa verteidigt werden“, erinnert sich Ralf Fücks. Die Ähnlichkeit mit Habecks Argumentation für Rüstungslieferungen an die Ukraine ist auffällig. Dass die „Bellizisten“ damals in der grünen Partei rasch an Boden gewannen, lag vor allem an der Eskalation des Kriegs in Bosnien. Aber ein weiterer Aspekt spielte eine Rolle: die Aussicht auf eine Regierungsbeteiligung. Realpolitiker hielten der Parteilinken vor, dass eine Abschaffung der Bundeswehr und ein Austritt aus der NATO in keiner Weise durchsetzbar seien. Wer ernsthaft in die Regierung wolle, müsse so ehrlich sein, das offen zuzugeben.

Es war ein konkretes Ereignis, das den Ausschlag für die Wende bei den Grünen gab: der Völkermord von Srebrenica. Der spätere Außenminister Joschka Fischer hatte in dieser innerparteilichen Auseinandersetzung bis dahin taktiert, wenngleich er erkennbar eher auf der Seite der Bellizisten stand. Zwei Wochen nach dem Massenmord in der UN-Schutzzone, die von UN-Soldaten nicht verteidigt worden war, schrieb er einen offenen Brief an Partei und Fraktion, in dem er sich für eine militärische Verteidigung der Schutzzonen am Boden und aus der Luft aussprach.

Es folgte ein zähes Ringen um die neue Positionierung der Partei. Dem linken Flügel war einerseits klar, dass seine kategorische Ablehnung jeglichen militärischen Eingreifens unhaltbar geworden war, er versuchte andererseits aber weiter, so viele seiner Glaubenssätze wie möglich zu retten – und sei es in Formelkompromissen. Dass es dann eine Bundesregierung unter grüner Beteiligung war, die nicht ganz vier Jahre später erstmals Soldaten der Bundeswehr in einen Krieg schickte, wäre ohne diese Vorgeschichte nicht denkbar gewesen.

Die Argumente für und gegen eine Beteiligung am Kosovo-Krieg 1999, mit dem die Vertreibung der albanischen Bevölkerung durch das Regime des serbischen Gewaltherrschers Milošević gestoppt wurde, waren die gleichen wie sechs Jahre zuvor beim ersten Parteitag der Grünen zum Bosnienkrieg, nur die Mehrheitsverhältnisse waren ganz anders. Vielleicht ist Habecks Vorstoß zur Ukraine der Beginn einer neuen Debatte bei den Grünen über die Frage, wie der Herausforderung durch gewalttätige Regimes zu begegnen ist.

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