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#Protokoll eines Erdbebens

Protokoll eines Erdbebens

Das musikalische Denken von Nikolaus Harnoncourt war immer in Bewegung, suchte Widerspruch und Korrektur. Ein Satz, wie ihn der Dirigentendarsteller und Genie-Simulant Teodor Currentzis der Journalistin Susanne Benda in einem Interview für die Stuttgarter Nachrichten an den Kopf knallte – „Ich dirigiere Tschaikowsky nicht anders, ich dirigiere ihn richtig“ –, wäre ihm nie über die Lippen gekommen. Elf Jahre nach seiner umwerfenden Gesamtaufnahme aller neun Beethoven-Symphonien mit dem Chamber Orchestra of Europe 1990 war Harnoncourt im Jahr 2011 wieder unruhig geworden. Er hatte in Beethovens Fünfter, der „Schicksalssymphonie“, einiges entdeckt, das er durch mehrere Orchester der Öffentlichkeit mitteilen wollte.

Als er im Herbst 2011 die Berliner Philharmoniker dirigierte, war das Publikum hinterher durch Schockstarre gelähmt. Statt eines Triumphes der Befreiung im Finale, statt hellen Jubels hatte es etwas anderes zu hören bekommen: Der Sieg der Gepeinigten über ihre Peiniger setzte keine neue Humanität ins Recht, sondern geriet zur Explosion der Barbarei. Die Gewalt selbst strahlte aus diesem gleißnerischen C-Dur. Harnoncourt hatte aus Beethoven die Dynamik der Revolution herausgelesen: das Umschlagen von Glanz in Terror. Die mehrfache Bestätigung des Schlusses, oft persifliert, auch von Erik Satie in dessen „Sonatine bu­reaucratique“, verlor bei Harnoncourt jede Lächerlichkeit. Er inszenierte die Akkorde, durch rasende Beschleunigung vorbereitet, als Choreographie des Blutrausches – wie ein Springen mit beiden Beinen auf den Kopf des Unterlegenen: „Tot! Tot! Tot!“

So erschreckend hatte man nie zuvor gehört, was Siegen bedeuten kann, erschreckend vor allem dadurch, weil alles mit bezwingender Evidenz aus der Musik selbst hergeleitet schien. Harnoncourt war es gelungen, auch die grausige Dimension der vielgerühmten Beethoven’schen Konsequenzlogik freizulegen.

Über das Konzert mit dem gleichen Stück bei der Philharmonia Zürich, ebenfalls im Herbst 2011, schreibt Peter Hagmann, vormals Musikredakteur der Neuen Zürcher Zeitung, dass nach dem Konzert „erschrockene Stille“ eingetreten war. „Ein Erdbeben hatte sich ereignet, die Erschütterungen waren durch Mark und Bein gegangen.“ Der Text findet sich im Beiheft einer ungewöhnlichen Doppel-CD mit dem Titel „Farewell from Zürich“ (Prospero/Note 1). Sie bietet einen Mitschnitt dieses letzten Konzerts des 2016 verstorbenen Dirigenten bei der Philharmonia Zürich, dem Orchester des dortigen Opernhauses, dem er fast vier Jahrzehnte verbunden gewesen war und wo seine Frau Alice als Konzertmeisterin tatkräftig mitgeholfen hatte, Harnoncourts Forschungen zur Spieltechnik und Aufführungspraxis den Musikern praktisch zu vermitteln.

Neben der Gran Partita, der Bläserserenade KV 361 von Wolfgang Amadeus Mozart enthält der Mitschnitt eben diese packende, ungeheuerliche Lesart von Beethovens Fünfter. Bei Mozart hört man gerade in der Einleitung ein wunderbar atmendes, ganz freies Rubato der Bläsersoli zwischen den Tutti-Akkorden. Im Kopfsatz von Beethovens Fünfter hingegen herrscht die Panik des unvorhersehbaren Dauerhagels von Ereignissen, gegen die sich das Oboensolo als Atempause des Schmerzes inmitten der Atemlosigkeit stellt. Plötzlichkeit als Qualität ästhetischer Erfahrung, wie der kürzlich verstorbene Karl-Heinz Bohrer sie beschrieben hatte, das jähe Überfallenwerden ist hier zum Ausnahmezustand gesteigert.

Zugleich bietet die CD Ausschnitte aus Harnoncourts Proben zum zweiten und dritten Satz von Beethovens Fünfter. „Bei den langen Tönen, da müssen Sie zu mir schauen“, sagt er den Musikern. „Ich mache in diesen Takten zig verschiedene Tempi. Bei diesem Satz ist wirklich die Gefahr, dass er langsamer wird, wo er nicht langsamer werden soll.“ Metrische Starre, die dem natürlichen Sprechen fremd ist, war ihm zuwider. Ihm ging es – Plötzlichkeit! – um die Wiedergewinnung des Unvorhersehbaren in einem allzu bekannten Stück: „Man soll nicht vorbereiten, was passiert.“

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