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#Sterben lernen heißt geduldig sein

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Sterben lernen heißt geduldig sein

Dokumentarfilme kennen viele Formen, können in ihrer Darstellung und Kon­struktion von Wirklichkeit episch ausgreifen oder theatralisch szenisch verknappen, chronologisch verfahren, veristisch oder mehr der essayistischen Seite zuneigen, mit Assoziationen ihre Recherche betreiben, jede Wahrheitsmöglichkeit der Anordnung und dem Schnitt des Materials überantworten oder mit ­Techniken der Auslassung in mehr lyrischer Weise auf Vieldeutigkeiten setzen. „Erstes Königreich“, ein ebenso persönlicher wie Subjektivität transzendierender Dokumentarfilm über das Sterben, den Tod und mögliche Transformationen des Körpers und des Geistes nach dem Tod, verbindet in mehr als neunzig Minuten essayistische, lyrische und assoziative Formen der filmischen Darstellung. Einlassen muss man sich als Zuschauer auf die Bild- und Montageangebote, die Ioanis Nuguet (unter, wie es im Abspann heißt, „harmonischer“ Mitwirkung seines Bruders Adrien) mit „Erstes Königreich“ zum Sehen und Erkennen anbietet. Der Film ist nichts für kurze Aufmerksamkeitsspannen.

Diesen passend zu späterer Stunde auf Arte gesendeten Film muss man überdies aushalten wollen. Er handelt vom Sterben der Mutter der Filmemacher, zeigt etwa ihre letzten, rasselnden Atemzüge im Kreis der engsten Angehörigen und die anschließende Stille aus nächster Nähe. Es gibt zwar keine explizite Dramaturgie, die auf diesen einen, besonderen Tod hinführt oder ihn mit nachdenklichem Kurzschluss beispielsweise als Abschluss eines vollendeten Lebens begreift. Nuguet konstruiert dramaturgisch mehr Wellenbewegungen, Transformationen von Bildern, Überblendungen von Motiven und Abläufen des Werdens und Vergehens. Nach dem Ableben der Mutter sieht man Fotografien ihres Lebens in schneller Abfolge. Die alte Frau. die ältere, die junge, das Kind, das Baby. Ein Nichts unter Wasser im roten Schein, vielleicht der eines nächtlichen Mondes auf Bali unterm Meeresspiegel, das Fruchtwasseraufnahmen aus dem Inneren einer Frau ähnelt.

Deutungsoffen, aber nicht beliebig

Ioanis Nuguet, dessen Vater einst bei einem Tauchunfall im Meer ums Leben kann, erfindet seine Bilder rund um Motive familiärer Bindungen, ihrer Auflösungen, dem Vergehen und der Wiederkehr: Rituale und Totenkult in Bali. Schattentheater mit balinesischen Marionetten, aufgeführt in der Kulisse des Eingangs zur mythischen Unterwelt. Das Meer dient klassischerweise als Hauptmotiv. Taucher schwimmen durch das Riff, am Ufer trifft Gischt auf blumengeschmückte Körbchen, in denen die Asche von Verstorbenen auf große Fahrt geht. Man sieht die Mutter Laurence in der Maschinen-Röhre, die ihr Gehirn Schicht um Schicht durchleuchtet. Im bildgebenden Verfahren sichtbar gemachte Gehirnstrukturen, neurologische Bahnen werden in Tentakelwälder von Unterwasseranemonen verwandelt.

Die Familie Nuguet tritt dabei mit mehreren Generationen auf. Die gebrechliche Großmutter, die das Sterben ihrer Tochter beweint. Ioanis Frau bei der Geburt, die kleine Tochter, der nachgeborene Sohn, die Mutter, die sich auf Bali, nun glatzköpfig, zeremoniell auf ihren Tod oder ihre Reinkarnation vorbereiten lässt. Alte, private Super-8-Aufnahmen aus der Provence. Heimat wird sichtbar, Trost und Zärtlichkeit der Nächsten.

Der Bildduktus von „Erstes Königreich“ ist dabei spekulativ und deutungsoffen, aber nicht beliebig. Zwei Motti öffnen den Vorhang des Films: „Alles was wir im Kino sehen ist falsch, und doch ist es die einzige Realität, die wir kennen“, sowie ein Auszug eines Gedichtes von Kathleen Raine: „Wo sind die Toten hin? Wo können wir sie treffen?“ Leitmotivisch erscheint auch die Vielfalt der Musikstücke, unter anderem von Henryk Gorecki, César Franck, Sergej Rachmaninow und Nikolaus Bruhns (1665–1697). Themen und Variationen, Übergänge, unterschiedliche Tonarten, komponierte Bildbögen – „Erstes Königreich“ entzieht sich dem Ungeduldigen, der sich seine Einstellung zum Tod fest gebildet hat, bis zum Ende.

Erstes Königreich, an diesem Montag, 23.55 Uhr, bei Arte.

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