#Superhelden wie wir
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„Superhelden wie wir“
Die Welt von Tina Herchenröther besteht aus vielen Superhelden. Einmal scheinen sie einer reinen Fantasiewelt entsprungen, wirken wie modernisierte Sphinxe auf ihren Sockeln, ein anderes Mal erinnern sie an konkrete Vorbilder aus Weltraumserien, Fantasyromanen oder Manga Comics. An „Die unendliche Geschichte“ oder „Harry Potter“. Die junge Frau arbeitet mit kräftigen Farben, verreibt sie auch mal mit den Fingern, wenn es mit dem Pinsel nicht den für sie richtigen Auftrag, den richtigen Farbton zu ergeben scheint. Ihre gesammelten Werke liegen wohl beschriftet in zwei grauen DIN-A3-Kartons, versehen mit ihrem Namen, sorgfältig archiviert, wie alle Arbeiten der Künstler im Atelier Goldstein.
Vielseitig: Ein weiblicher Hinterkopf mit Zopf ist auf einem Bild des Künstlers Juewen Zhang im Atelier Goldstein zu sehen.
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Bild: Albermann, Martin
Das ist eine Form der Achtung vor den Künstlern, die man hier in jeder noch so kleinen Geste spürt. Aus den frühen Papierarbeiten im kleineren Format ist mittlerweile längst auch Großflächigeres geworden. Viele der Bilder zeigen figurative Selbstporträts in unterschiedlicher Gestalt. Die 23 Jahre alte Tina Herchenröther spielt auch am Schauspiel Frankfurt Theater und zeichnet sich in verschiedenen Rollen. Im Atelier Goldstein inszeniert sie sich selbst, fotografiert, malt nach den Fotografien. Tina Herchenröther ist eine von 14 Frauen und Männern mit kognitiven Beeinträchtigungen, die im Atelier Goldstein einfach nur Künstlerinnen und Künstler sein dürfen.
An diesem Tag ist es eine Radierung, die sie mit dem Bleistift auf eine kleine Kupferplatte überträgt. Wobei Übertragung das falsche Wort ist. Das Foto zeigt sie komplett als Clown, die Zeichnung auf der Kupferplatte konzentriert sich nur auf das Gesicht und abstrahiert, zu sehen sind dicke Plusterbacken. „Sie ist offen, neugierig, fantasievoll, völlig angstfrei vor den Materialien und probiert so auch sehr viel aus“, sagt Sophia Edschmid, Leiterin des Ateliers. Aber nicht jeder, der Spaß am Malen hat, wird aufgenommen, die Latte liegt hoch, wie auch an anderen Kunstschulen. Die meisten Künstler hat Atelier-Gründerin und Direktorin Christiane Cuticchio vor vielen Jahren entdeckt, indem sie durch Behinderten-Werkstätten und Wohnheime ging und künstlerisch besonders Begabte ausfindig machte.
Eine Entscheidung gegen die Rente
Tina Herchenröthers Weg war ein wenig anders. Als Kind im Alter von sechs Jahren hatte sie das Atelier Goldstein, eine Einrichtung der Lebenshilfe, schon gemeinsam mit den künstlerisch interessierten Eltern besucht. Nach der Schule entschieden die sich dafür, die künstlerischen Interessen ihrer Tochter, die das Down-Syndrom hat, zu fördern. Die Entscheidung für die Kunst war eine Entscheidung gegen die Rente. Denn die meisten Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen arbeiten in Werkstätten für geistig Behinderte, in Frankfurt sind das oft die Praunheimer Werkstätten. Damit erwerben sie eigenständig einen Anspruch auf Rente und sind im Alter nicht auf Grundsicherung angewiesen.
Entdecker und Förderer junger Talente: Das Leitungstrio Sophia Edschmid, Christiane Cuticchio und Sven Fritz (von links)
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Bild: Albermann, Martin
Tina Herchenröthers Eltern wollten, so sagt Edschmid, dass die Tochter ihre Talente entfalten könne. So kam sie nach der Schule in den Berufsbildungsbereich des Ateliers, der ähnlich aufgebaut ist wie der in den Werkstätten und der deswegen auch offiziell anerkannt ist. Grafik, Malerei und Kultur standen auf dem Ausbildungsplan nach einem Praktikum, in dem Tina Herchenröther ihre Eignung noch einmal unter Beweis stellen musste. Erst drei der Künstler gingen diesen Weg und arbeiten an vier Tagen die Woche im Atelier. Diese individuelle Ausbildung wird über die Agentur für Arbeit finanziert, Träger des Ateliers ist die Lebenshilfe. In Frankfurt und Umgebung ist das Atelier Goldstein das einzige, das so etwas anbietet. Die Teilnehmer können sich während der dreijährigen Ausbildung darüber klar werden, ob sie wirklich ein Leben als Künstler führen wollen.
„Die ganze Welt steht ihr offen“, prophezeit Edschmid. In den vier Jahren im Atelier habe Tina Herchenröther ihren ganz eigenen Stil entwickelt und ihre Themen gefunden, die popkulturell geprägt seien. Ihre erste Einzelausstellung, die im vergangenen Jahr in Graz geplant war, fiel wegen der Corona-Pandemie aus. Momentan arbeitet sie an einem ersten Auftragswerk für den Landesverband der Lebenshilfe. Ihr fast sechs Quadratmeter großes Bild wird das Eingangsfoyer einer neuen Schule für Sozialwesen schmücken.
Anbau dringend benötigt: Das Atelier ist in diesem Backsteinhaus untergebracht.
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Bild: Albermann, Martin
Eine Lenkung ihrer Arbeit erfahren die Künstlerinnen und Künstler laut Edschmid nicht: „Es kommt bei jedem einfach raus, was brennt“, sagt sie. Ausstellungen zu haben und Berühmtheit zu erlangen, wie es einige der Atelier-Künstler schon erreicht haben, sei für sie nicht die Antriebsfeder ihres Schaffens. Hier betreibe auch niemand „Volkshochschulkunst oder Beschäftigungstherapie“, so sehr diese auch ihre Berechtigung hätten. „Das sind alles extrem begabte Menschen, die zur künstlerischen Elite gehören.“ Entsprechend wichtig sei es, ihnen den Raum zur Entfaltung zu bieten.
„Superhelden“, das Motiv der Auftragsarbeit von Tina Herchenröther, sind die Künstler im Atelier Goldstein in gewisser Hinsicht alle. Und Vorbilder für das Selbstverständnis einer neuen Generation, in der niemand danach fragt, welche Behinderung man hat, sondern was man als Künstler leisten kann.
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