#Über das europäische Versagen werden wir reden müssen
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„Über das europäische Versagen werden wir reden müssen“
Ein Vorwurf, der den Deutschen zurzeit gemacht wird, übrigens auch von Deutschen selbst, lautet ungefähr so: „Da steht die Welt in Flammen, aber ihr nehmt Bombenterror und millionenfaches Leid in der Ukraine nur zum Anlass, über eure nationale Befindlichkeit nachzudenken.“ Das ist nicht ganz fair, aber ganz falsch ist es auch nicht. In den vergangenen Wochen ist vieles ins Zwielicht gerückt: das Kuscheln mit Putin, der bequeme Pazifismus, die Privilegierung eigener Wirtschaftsinteressen, die Missachtung der Bundeswehr sowie die Blindheit gegenüber Russlands Imperialismus.
Sergei Loznitsa, der preisgekrönte ukrainische Filmemacher, sagte es im 18. Akademie-Gespräch, „Russland und Ukraine – Künstlerinnen und Künstler diskutieren über Krieg und Frieden“, an die Adresse von Politikern unverhohlen: „Warum habt ihr die Kriminalität des russischen Regimes nicht bekämpft?“ Gemeint war: nach dem Mauerfall. Ganz einfach wäre das natürlich nicht gewesen. Doch spätestens seit 2007, fuhr Loznitsa fort, habe über Putins längerfristige Absichten kein Zweifel mehr bestehen können. Europäer seien für den Krieg in der Ukraine „direkt verantwortlich, und darüber wird man sprechen müssen“.
Schöner Eigensinn der Kunst
Absurderweise fand die Veranstaltung in der Akademie der Künste am Brandenburger Tor auf Englisch statt – das war lästig für alle. Am Ende stellte sich nämlich heraus, dass alle Personen auf dem Podium Deutsch verstanden. Es sollte um Kunst gehen, und was Künstler vermögen in dieser furchtbaren Zeit, daran erinnerte die Akademie-Präsidentin Jeanine Meerapfel mehrmals. Antwort: Im Wesentlichen tun sie nun einmal, was sie tun.
Individuelle Befindlichkeiten beim Schreiben spielen dabei eine Rolle. Die Autorin Sasha Marianna Salzmann etwa fand, es gebe keine unpolitischen Künstler, so wenig wie unpolitische Körper. Und man bekomme politischen Aktivismus von Künstlern nicht auf Knopfdruck. Überhaupt wirke Kunst oft auf andere Weise als die offensichtlichste. Zu diesem klugen Plädoyer für Eigensinn passten die Sätze der aus Leipzig zugeschalteten Schriftstellerin Svetlana Lavochkina, die sagte, sie habe Englisch schon früh als Herzenssprache gewählt, weil ihr die Sowjetunion ihrer Jugend wie eine zutiefst falsche, verquere Welt vorgekommen sei. Eine Künstlerin tut, was sie tut.
Für die notwendige Dosis Realität war Volker Weichsel zuständig, Redakteur der Zeitschrift „Osteuropa“. Er sagte: „Die Lage war klar von Anfang an.“ Man habe alles kommen sehen, und die Autoren der Zeitschrift – Russen, Belarussen, Ukrainer – hätten es vielfach geschrieben und analysiert. Und doch, was hätte man tun sollen? Weichsel schaute uns tief in die Augen, so gut man das bei einem Saal voller maskierter Menschen kann. Da fingen wir an, scharf nachzudenken. Hätte man Nord Stream 2 kippen können? Klar! Nichts leichter als das! Man hätte scharfe Sanktionen beschließen, energisch aufrüsten, ein Hundert-Milliarden-Paket für die Bundeswehr beschließen können! Aber nichts davon hätte die Bundesrepublik vor zwei Monaten zustande gebracht. Nichts davon hätte in unsere Vorkriegswelt gepasst, denn dafür braucht es offenbar einen Krieg.
Vorwurf „Kosmopolitismus“
Mangel an politischer Phantasie, auch Stumpfheit und Gleichgültigkeit – darum ging es dem eingangs zitierten Filmemacher Loznitsa, dessen Film „Donbass“ aus dem Jahr 2018 jetzt wieder für Furore und teils auch Beschämung sorgt (F.A.Z. vom 6. April). Loznitsa ist im Februar aus der Europäischen Filmakademie ausgetreten, weil er deren öffentliche Stellungnahme zum Krieg für feige und euphemistisch hielt. Im Monat darauf wurde wiederum er aus der Ukrainischen Filmakademie ausgeschlossen, weil er nicht bereit war, russische Kollegen auf einem Festival zu boykottieren. „Kosmopolitismus“ warf man ihm vor.
Werden wir aus Loznitsas Filmen und seinen Worten lernen? Immerhin, als er um eine Schweigeminute für einen getöteten Kollegen bat, standen wir alle auf und schwiegen. Sein nächster Film, sagte Sergei Loznitsa, handele übrigens von der Bombardierung Deutschlands, und manche von uns werden gedacht haben: Ach, damals, natürlich! So lange her. Wie gut, noch einmal daran zu erinnern. Auch wenn wir ganz genau wissen, dass man auf historische Erinnerung nicht viel geben kann.
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