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#Katja Petrowskaja über das Sterben im Ukraine-Krieg

Skulpturen, die im grünen Gewächs versunken sind. Manche strecken die Hände nach oben und nach vorne in einer alarmierenden Bewegung. Ihre Körper werden auf die Erde gedrückt, als wären sie verwundet und suchten nach Rettung, um dem tödlichen Sog der Erde zu entgehen. Erst im nächsten Moment habe ich verstanden, dass es Niobe und ihre Kinder sind und dass ich im Garten einer Villa in Rom tatsächlich Zeugin einer mörderischen Szene bin: Alle ihre vierzehn Kinder, eines nach dem anderen, werden abgeschlachtet. Niobe hatte die Göttin Leto verhöhnt, weil diese nur zwei Kinder hatte, Apollo und Artemis. Leto gab den Befehl, die fruchtbare Niobe für ihre Hybris zu bestrafen. Apollo und Artemis haben nicht ein einziges Kind verschont.

Zwischen den Blättern sah ich eine Hand, die wie beim Schwimmen aus dem Grün heraus ragte, eine Figur sank zu Boden, die dritte drückte eine Handfläche auf den Rücken, von Apollos Pfeil getroffen. Jeder starb anders. Alle streckten die Arme aus, als klammerten sie sich an das Leben.

Ich bin mehrfach um diese Gruppe herum gegangen, irritiert von dem Gefühl, dass ich eine Tötung in realer Zeit beobachtete, als wäre ich eine Foto-Korrespondentin der Antike. Ich fotografierte die erstarrte Bewegung, die in der Skulptur bereits fixiert und versteinert ist, und das ist genau das, worum Fotografie sich bemüht – den festgehaltenen Moment, den ewigen Übergang. Ich staunte, wie sich mein Blick in diesem Kriegsjahr verändert hat, besonders als ich einen Körper aus rauem Stein zwischen die grünen Blätter gedrückt am Boden sah. Mit vom Tod gefressenen Händen.

Vor einem Jahr schien es, als ob der Krieg bereits sehr lang dauerte, es wurden Irpin und Butscha befreit, und die Welt sah die Bilder von der „Pax Russica”: Zivile Opfer mit verbundenen Händen, die Hand einer getöteten Frau mit Maniküre, die graue Hand einer anderen, leicht geschwollen. Nicht weit von ihr liegt ihr Schlüsselanhänger mit der Europaflagge. In dieser Nacht gab es in Kiew wieder einen „Einschlag“, ein Freund saß im Flur zwischen den Wänden, und ich dachte an die Offenheit und Ungeschütztheit des menschlichen Körpers. Aus meinem inneren italienischen „Film“ blitzte der riesige glatte Rumpf des florentinischen Davids, als aufrecht stehendes Ziel.

Der Übersetzer, Philosoph und Aktivist Jewgen P.  aus Lwiw bei seinem letzten Fernsehinterview. Er hat sich als Freiwilliger zur Front gemeldet – und ist bei Bachmut gefallen.


Der Übersetzer, Philosoph und Aktivist Jewgen P. aus Lwiw bei seinem letzten Fernsehinterview. Er hat sich als Freiwilliger zur Front gemeldet – und ist bei Bachmut gefallen.
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Bild: Tvoe Misto

Eine Dichterin vermeldete, dass das Wunder nicht geschehen sei. Der Vermisste sei tot. Ich kannte Jewgen G. nicht und dachte daran, dass ich im vergangenen Jahr einige wunderbare Menschen kennengelernt habe, als sie bereits tot waren, Soldaten, Sanitäter, Evakuierungshelfer. Jewgen war Übersetzer, Philosoph und Aktivist gewesen, aus Lwiw, er hat sich als Freiwilliger zur Front gemeldet – nun ist er gefallen. Ich las über ihn, innerlich versteinert, und hielt dabei mein iPhone wie eine Kerze, die durch die Nacht leuchtete – eine Quelle der Information, aus der eine Hommage wurde, das Objekt eines Trauerritus’.

Weiter schrieb sie, wie man die Vermissten auf der geistigen Demarkationslinie zwischen Leben und Tod halte, um ihnen nicht zu schaden. Der langsame Übergang, diese Ungewissheit des Ungewollten, wirkt wie eine Überschreitung aus umgekehrter Perspektive, in der Linien nicht am Horizont, sondern im Betrachter zusammenlaufen, wie bei einer byzantinischen Ikone.

„Vom Pazifisten zu einem, der Cherson befreite“

Auch Jewgen fiel bei Bachmut. Nichts zu ändern. Ich sah sein Gesicht in seinem letzten Interview mit dem Titel „Vom Pazifisten zu einem, der Cherson befreite“, in dem er leise und etwas verlegen über die Kämpfe spricht, seine Verletzung, Kameraden und warum er, der Kulturwissenschaftler, nicht anders konnte, als an die Front zu gehen. Ich stieß auf seinen Aufsatz über die ukrainische Übersetzung von Jean Baudrillards Hauptwerk „Der symbolische Tausch und der Tod“. Und ja, Kultur besteht zum größten Teil aus Gesprächen mit Verstorbenen, aber dass sie gerade jetzt und auf diese Weise sterben, darauf ist auch sie nicht vorbereitet.

Er sprach, ich machte Screenshots, um sein Gesicht dem Strom des Todes zu entreißen, das Gesicht eines Menschen, dem ich zum ersten Mal im Nachruf begegnete und von dem ich nicht bereit war, Abschied zu nehmen. Minimalistische, zurückhaltende Mimik, eng stehende schmale Augen wie auf den Fresken von Giotto, als wäre es ihm lieber, in die Schrift versunken zu sein, als die Augen zu heben. Morgens, als ich wieder aufwachte, sah ich, wie sein Gesicht neben den flehenden Händen von Niobes Kindern aufleuchtete und um nichts bat.

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