Nachrichten

#Vor dem Totenbett der Zeit

Vor dem Totenbett der Zeit

Während in Kabul scharf geschossen wird, fuchteln sie in Berlin wild mit ihren falschen Gewehren herum und rufen dabei „bumsdi“. In den „Extrablättern“, die sie verteilen, ist von „53 erbeuteten Geschützen“ und von „Verwaltungsübergabe“ die Rede. In Kabul schießen sie weiter scharf. Denn dort erleben viele Menschen gerade wirklich ihre „letzten Tage“.

Der Zeitpunkt, an dem der extravagante österreichische Schauspieler und Theatermacher Paulus Manker seine monumentale Inszenierung von Karl Kraus’ „Die letzten Tagen der Menschheit“ in Berlin zur Aufführung bringt, ist riskant. Ein historisches Drama zu inszenieren, das vom Grauen des Krieges in zynisch karikierender Weise handelt, während die Nachrichtensendungen voll mit Bildern von Militärmaschinen sind, könnte leicht deplatziert wirken.

Gefühl von Weltenbrand

Es könnte aber auch auf eine verfremdete Weise genau jenes Gefühl von Weltenbrand treffen, das uns in diesen Tagen bewegt: Wenn der siebenstündige Theatermarathon in der spektakulären Belgienhalle auf der Insel Gartenfeld am frühen Abend mit der Eilnachricht vom Attentat auf das österreichische Thronfolgerpaar beginnt und laut deklamierende Zeitungsverkäufer mit historischen „Extrablättern“ durchs Publikum laufen, dann ähnelt das den Meldungen vom Einmarsch der Taliban in Kabul zumindest auf einer rezeptionspsychologischen Ebene. Es ist die Schockwirkung einer Nachricht, die die Verhältnisse erschüttert. Das eine Ereignis wird plötzlich zum Gesprächsthema der ganzen Welt. Damit beginnt Mankers Marathonlauf durch das umfangreichste Werk, das jemals für die Bühne geschrieben wurde. 220 Szenen und mehr als 1000 Figuren zählt das während des Ersten Weltkrieges aus einer wüsten Unzahl an Originalzitaten, Aphorismen und Glossen entstandene Drama des notorischen Zynikers Karl Kraus.

Im Gleichschritt: Krankenschwestern auf dem Weg an die Front.


Im Gleichschritt: Krankenschwestern auf dem Weg an die Front.
:


Bild: Sebastian Kreuzberger

Ein überbordendes Angsttraumstück, „nur für ein Marstheater gedacht“, wie der Autor selbst prophezeit, der damit die wenigen Aufführungsversuche seit seiner Fertigstellung 1926 schon vorweg ins Unrecht setzt. Die größte Furcht von Kraus war, dass man aus seinem gigantischen Lesedrama ein „Unterhaltungsspektakel“ machen könnte. Bei Manker geht sie paukenschlagend in Erfüllung: Einen ganzen Abend und eine halbe Nacht lang schickt er seine achtzehn spielwütigen Darstellerinnen und Darsteller durch die Räume der mehrschiffigen Hallenbasilika, die ursprünglich als Kriegsbeute aus dem nordfranzösischen Valenciennes nach Berlin überführt wurde und bis kurz nach der Jahrtausendwende als Produktionsstätte für Kabel und Isoliermaterial diente. Der verlassene Industriebau gibt dem wuseligen Theatergeschehen von Beginn an die packende Aura historischer Zeugenschaft und zeitgeschichtlicher Gültigkeit. Das Publikum sitzt am Anfang auf Stühlen im Wiener Kaffeehausarrangement, ist danach jedoch dauernd in Bewegung, verfolgt in verschiedenen Grüppchen einzelne Szenen, wandelt von einem ta­bleau vivant zum nächsten und lässt sich von Zeremonienmeister Manker persönlich in einem offenen Eisenbahnwagen nach draußen zum Frontbesuch fahren.

„Feuilletongespenst“ an der Front

„Der falsche Schein“, den Adorno durchaus ehrfurchtsvoll im wütend zusammencollagierten Stück erkannte, wird hier besonders grell in Szene gesetzt: Die Soldaten lassen die Zuschauer mit ihren falschen Gewehren schießen, springen röchelnd in den Sand, tanzen aufgedreht – aber nur ein paar Schritte weiter stehen andere mit versteinerten Gesichtern auf einem Sandberg, aus dem gerade der zerschossene Körper eines Kameraden freigelegt worden ist. Eine junge Kriegsreporterin fragt sie nach ihren Empfindungen, schwärmt vom „freigewordenen Menschentum“. Sie hat ihr Vorbild in der österreichisch-jüdischen Kriegsberichterstatterin Alice Schalek, die für die Neue Freie Presse begeistert von der Südwestfront berichtete. Kraus lässt dieses „Feuilletongespenst“ an unterschiedlichen Stellen seines Dramas auftreten und das repräsentieren, was ihm am meisten zuwider war: die Katastrophensucht einer erfahrungshungrigen Generation, die sich mit Leib und Seele einer Sache verschrieb, deren Monstrosität sie nicht überblickte.

Wenn Ihnen der Artikel gefallen hat, vergessen Sie nicht, ihn mit Ihren Freunden zu teilen. Folgen Sie uns auch in Google News, klicken Sie auf den Stern und wählen Sie uns aus Ihren Favoriten aus.

Wenn Sie an Foren interessiert sind, können Sie Forum.BuradaBiliyorum.Com besuchen.

Wenn Sie weitere Nachrichten lesen möchten, können Sie unsere Nachrichten kategorie besuchen.

Quelle

Ähnliche Artikel

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Schaltfläche "Zurück zum Anfang"
Schließen

Please allow ads on our site

Please consider supporting us by disabling your ad blocker!